12.03.2021
Die Wasserstoff-Katze ist aus dem Sack
Ein Kommentar von Götz Warnke
Im Juni vergangenen Jahres verkündete die Bundesregierung ihre Nationale Wasserstoffstrategie; sie kam damit der EU um einen Monat zuvor, die ihr Wasserstoff-Konzept Anfang Juli 2020 präsentierte. Beiden Strategien ist gemein, dass Wasserstoff die zentrale Rolle für eine Energiewende weg von den fossilen Energien und hin zu einem dekarbonisierten, auf Erneuerbaren Energien basierenden Energie- und Wirtschaftssystem zukommt.
Wasserstoff ist für die Regierenden so eine Art Tausendsassa, der das Klima retten und alle Probleme auf dem Weg zu einer klimaneutralen Zukunft lösen soll: als Stromspeicher für Dunkelflauten, als Erdgas-Ersatz in den Gasnetzen für die Wärmeversorgung, bei der Dekarbonisierung der Stahlindustrie und anderer Industrien, sowie bei der Verkehrswende als Treibstoff(-Basis) für Autos, Züge, Schiffe und Flugzeuge. Es scheint so, als sollte nach dem Willen der Regierenden die Antwort auf alle Energiefragen "Wasserstoff" lauten.
Und es soll "Grüner Wasserstoff" sein, hergestellt aus den Erneuerbaren Energien Sonne, Wind und Wasser. Denn andernfalls würde die ganze Wasserstoff-Wirtschaft klimapolitisch keinen Sinn ergeben, wird doch heute ca. 98 % des benötigten Wasserstoffs als Erdgas-Dampfreformierung mit fossilen Energien unter großen CO2-Emissionen hergestellt (Grauer Wasserstoff).
Der Wasserstoff-Pfad ist generell extrem energieaufwändig; je nach Verwendung des Wasserstoffs - ob zur Stahl-Reduktion oder als Autoantrieb - gehen 40 bis 80 % der zur Wasseraufspaltung eingesetzten Energie verloren, wozu auch die Speicherung dieses farblosen und extrem flüchtigen Gases beiträgt. Die Ökonomin Claudia Kemfert vom DIW hat Wasserstoff mal sehr treffend als "der Champagner unter den Energieträgern" bezeichnet.
Und auf diesen "Champagner" stürzt sich die ansonsten nicht sonderlich agile Bundesregierung mit einer ganz ungewohnten Behändigkeit. Schon im Dezember konnte das Bundeswirtschaftsministerium eine Förderbescheid-Übergabe an Siemens Energy für eine Wasserstoff-/PtX-Anlage in Chile vermelden. Vattenfall und Shell planen die Produktion von grünem Wasserstoff im leitungstechnisch gut angebundenen Hamburg Moorburg - ebenso wie Siemens Energy, HH2e und Uniper. Viele große Unternehmen springen auf den Zug auf, machen Jagd auf die Fördermilliarden in den Töpfen der Bundesregierung. Die Gasnetzbetreiber, die jahrzehntelang klimaschädliches Erdgas in die Republik pumpten, wollen nun schnell auf Wasserstoff umsteigen. Und auch "Zukunft Erdgas", die Brancheninitiative der deutschen Gaswirtschaft, hängt ihr Fähnlein in den Wind, und heißt nun "Zukunft Gas".
Selbst das sich unter seiner Ministerin nicht immer auf der Höhe der Zeit befindliche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mischt kräftig mit und fördert schon 71 Partner in 16 Projekten zur Wasserstoff-Grundlagenforschung mit Millionen Euro - weitere Projekte sind anhängig.
Kein Projekt ist zu groß, kein Standort zu weit, kein Thema zu überflüssig, wenn es um die "Wasserstoffrepublik Deutschland" geht. Ist das jetzt der große Durchbruch zur Verhinderung des künftigen Klimachaos? Wird Deutschland mit Wasserstoff endlich "grün"?
Zweifel sind mehr als angebracht. Wer wirklich "Grünen Wasserstoff" will, muss wegen der o.a. Umwandlungsverluste die Erneuerbaren Energien sehr viel stärker ausbauen als bisher. Denn schon mit dem heutigen Ausbautempo sind die Klimaziele für 2030 und 2050 nicht zu schaffen, lässt doch die Bundesregierung die Erneuerbaren Energien viel zu langsam wachsen. Und jetzt auch noch energieaufwändig Wasserstoff herstellen? Doch es kommt noch schlimmer: durch die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes(EEG) entfällt für ältere Windkraftanlagen die EEG-Förderung, weshalb jetzt viele noch gut funktionierende Anlagen, deren Strom gebraucht würde, abgeschaltet und demontiert werden - schon im letzten Jahr waren es über 200.
Dazu kommen offensichtliche Ungereimtheiten: Etwa dass viele der im Ausland angesiedelten Grün-Wasserstoff-Projekte für die Ausfuhr nach Deutschland wirtschaftspolitisch kontraproduktiv sind, wie das Wuppertal Institut festgestellt hat. Etwa der Wunschtraum, in den Gasnetzen H2 statt Erdgas zur Wohnungsheizung zu nutzen, eine Idee, die die Ingenieurin Prof. Julia King, Beraterin der Britischen Regierung und Fellow der Royal Society, als "heiße Luft" bezeichnet. Oder der immer wiederkehrende Versuch, Wasserstoff doch noch irgendwie massenhaft in die PKWs zu bekommen, wo alle Welt längst weiß, dass die reinen Batterie-Fahrzeuge wegen der höheren Energieeffizienz in diesem Bereich längst gewonnen haben.
Und plötzlich soll der Bürger auch noch ganz neue, energieintensive Wasserstoff-Farben lernen:
- Blauer Wasserstoff = konventionelle Erdgas-Dampfreformierung, wobei das entstehende CO2 abgeschieden und unterirdisch gespeichert wird (Carbon Capture and Storage/CCS)
- Türkiser Wasserstoff = thermische Spaltung von Methan/Erdgas; CO2 wird als fester Kohlenstoff (Kohle) gespeichert.
- Violetter Wasserstoff = mit Atomkraft erzeugt, gilt der EU als CO2-arm.
Denn kaum sind die ersten Grün-Wasserstoff-Projekte aus der Taufe gehoben und von der Wirtschafts-Publizistik medial besungen worden, ist die Wasserstoff-"Katze aus dem Sack: Evonik-Chef Christian Kullmann - zugleich Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) - fordert im besten Christian-Lindner-Stil "Technologieoffenheit". Man müsse die grüne Brille absetzen und auch alle anderen Wasserstoffarten zulassen. Und was der Chemie recht ist, ist den Stromversorgern billig - Uniper-Chef Anderas Schierenbeck bläst in das gleiche Horn.
Ausgestattet mit zusätzlichen staatlichen Milliarden-Subventionen, möchten die Großkonzerne also im Prinzip so weiter machen wie bisher. Ist also die ganze Wasserstoffstrategie der Bundesregierung - und auch der EU - im Wesentlichen eine große Lobbyblase, wie die Organisation LobbyControl meint? Trotz aller z.T. notwendigen Wasserstoff-Anwendungen - von der Dekarbonisierung der Stahlindustrie bis zur Speicherung des überschüssigen Stroms - könnte das durchaus so sein. Doch es könnte auch deutlich schlimmer kommen. Denn eine Wasserstoff-Wirtschaft ließe sich auch dazu verwenden, die Bürgerenergie zurückzudrängen, und dem alten monopolistisch-zentralistischen Energiesystem doch noch eine Renaissance zu bescheren: Bürger, die dann ihre Energie nicht mehr selber machen, sondern wieder von Netzen und Tankstellen abhängig sind. Die o.a. Ungereimtheiten deuten auf solche Bestrebungen hin und zeigen auch die Richtung, in der es laufen könnte. Die Befürworter der Erneuerbaren Energien müssen also sehr aufpassen. Schließlich sitzen ja auch im Umfeld des Bundeswirtschaftsministeriums genügend Personen, bei denen es mit der vielgerühmten "Technologieoffenheit" bezüglich der Erneuerbaren Energien nicht weit her ist.
Wie auch immer es weiter geht - die "Wasserstoff-Katze" ist kein schönes Tier.