11.09.2020
Elektroautos: Erst kommen sie langsam, dann gewaltig
Ein Tagungsbericht von Heinz Wraneschitz
Sie ist etwa anderthalb Jahre alt, die brisante „Elab-Studie“ der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zur Frage: Wie wirkt sich die erwartete Elektromobilität auf die Beschäftigung in der Automobilindustrie aus? In Nürnberg diskutierten kürzlich Gewerkschafter Chancen und Risiken der „Wirkungen der Elektrifizierung des Antriebsstrangs auf Beschäftigung und Standortumgebung“, wofür Elab ausgeschrieben steht.
Elab: Auch wenn darin auf Initiative des Daimler- Gesamtbetriebsrats hauptsächlich diese Autofirma unter die Lupe genommen wurde, ist Jürgen Dispan überzeugt: „Die Studie ist alles andere als ein Daimler-Projekt, sondern idealtypisch auf die gesamte Antriebsstrangwelt umzulegen.“ Zumal mit BMW und Audi zwei bayerische KFZ-Unternehmen ebenfalls befragt wurden.
Idealtypisch sei die Region Stuttgart auch deshalb, weil im dortigen „Automotive-Cluster“ insgesamt etwa 200.000 Menschen beschäftigt sind „mit starker Konzentration auf den Antriebsstrang“. Doch der Technologiewandel im Auto betrifft viele weitere Bereiche. Deshalb konstatiert Dispan: „Der Schritt vom Verbrennungs- auf Elektroantrieb ist ein krasser Strukturwandel.“ Und das fast unabhängig davon, ob im Jahr 2020 - wie von der Bundeskanzlerin vor Jahren versprochen - eine Million Elektroautos oder weniger über Deutschlands Straßen fahren.
Dispan hat maßgeblich an der Elab-Studie mitgearbeitet. Der Forscher vom IMU-Institut Stuttgart stellt besonders die stark veränderte Qualifikation heraus. „Mechatroniker, Elektroniker werden immer wichtiger. Bisher waren in der Ausbildung üblicherweise 2/3 Mechaniker, 2010 schon 50:50, und der Wandel wird sich fortsetzen.“ Für 2015 erwartet er „2/3 elektrodominierte Berufe“ für die er „mehr Standardisierung“ fordert. Denn während der heutige Elektro- und Elektronikanteil am Auto 40 Prozent beträgt, ist beim E-Auto 75 Prozent Elektrik, und nur noch 25 Prozent mechanischer „Rest“.
Der „Bedeutungszuwachs von Montage statt spanender Bearbeitung“ betrifft gerade auch Autozulieferer in der Metropolregion Nürnberg, weiß Heinz Pfäfflin. Sein Nürnberger IMU-Büro ist über einer Bestandsaufnahme in der Metropolregion Nürnberg im Bereich Automotive. Darin werden Metall, Elektro und Chemie-Firmen untersucht. Am Ende soll „eine regionale Chancen-Risiken-Bewertung stehen“, so Pfäfflin.
Das sei wichtig, bestätigt Andrea Fehrmann von der IG Metall Bayern: „In Bayern hat allein die Kernbranche Automobilität etwa 500.000 direkte oder indirekte Jobs“, darunter neben der Produktion Stellen in Handel, Handwerk, an Tankstellen usw. Schon deshalb sei es der Gewerkschaft „eine Herzensangelegenheit, den kommenden Strukturwandel aktiv zu begleiten“.
Dass dies „in Bayern wegen der Politik-Situation eine ganz besondere Herausforderung ist, daraus mache ich kein Hehl“, bekennt sie. Auch wenn ihre Gewerkschaft „eine koordinierte Industriepolitik für die Energiewende, die den Strukturwandel hin zur Elektromobilität aktiv einbindet“ fordert: Trotz allem Engagements der IG Metall in Arbeitsgruppen mit Wirtschaft, Wissenschaft und Politik fehle bislang im Freistaat „ein industriepolitisches Konzept. Es gibt noch keine Bestandsaufnahmen über die Wertschöpfung. Es ist nicht gelungen, eine Arbeitsgrundlage zu schaffen, die Arbeit stagniert“, stellt Fehrmann resigniert fest. Nur im Bereich Qualifizierung funktioniere die Zusammenarbeit gut.
Auch Mitarbeiter betroffener regionaler Unternehmen von MAN bis Schaeffler, von Bosch bis ZF sind frustriert. „Wir haben die Entwicklung gegenüber den Asiaten bei Hybridautos verschlafen“, meint ein junger Betriebsrat; „die Industrie interessiert nicht, was in einer bestimmten Zukunft passiert, sondern lebt im Jetzt. Und der Verbraucher wird nicht für ein Elektroauto doppelt soviel bezahlen wie für vergleichbar großes mit Verbrennungsmotor“, weiß ein älterer.
Ganz kritisch sieht Stephan Doll, wie schlecht eine mögliche Strukturveränderung in der Industrie durch die Forschung begleitet wird. Mittelfrankens DGB-Chef: „Wir haben eine komische Entwicklung in der Region. Es gibt Forschungseinrichtungen wie das E-Drive-Center oder den Energiecampus EnCN. Doch von dort gibt es keine Verbindung zu den Betrieben, weder zu Arbeitnehmern noch Arbeitgebern.“ Dieses „Forschen für 100 Mio. Euro ohne Verbindung zur Wirklichkeit ist sowohl für die Region, aber auch für die Steuerzahler problematisch“, kritisiert der Gewerkschaftsboss.
In dieselbe Kerbe haut ein MAN-Betriebsrat. „Die Politik hat nachhaltige Effekte der Innovationsförderung nicht im Blick“, schimpft er und nennt beispielhaft die milliardenschwere Stoiber`sche Hightechoffensive um die Jahrtausendwende.
„Keine Vernetzung: Das kann nicht sein“, sekundiert die Münchner IG-Metallerin Fehrmann; hier müsse man „klar Stellung beziehen, aktiv werden bei verantwortlichen Personen“. Doch das sei wohl in den Betrieben noch nicht so bewusst.
Der Arbeitnehmer-Vertreter eines Elektrotechnikwerks in Lauf sieht das anders: „Wir bauen Ladestationen für Elektroautos. Das ist in Deutschland nur ein kleines Thema. Deshalb geht unser Trend in andere Länder.“ Er nennt Nordeuropa, China, Indien, aber auch Nordamerika als Märkte. „Wenn Du den Trend verschlafen hast, fällst Du hinten runter. Egal ob der Markt 2020 oder 2030 da ist: Jede Firma hat es selber in der Hand.“ Sprich: Unternehmer sind gefordert, die nicht nur im Moment leben, sondern Zukunftsvisionen haben.
Trägerverein ist der „IMU Institut für Medienforschung und Urbanistik e.V.“ am Stammsitz Stuttgart. Weitere IMU-Standorte sind neben Nürnberg München und Berlin. Die Aufgabe: „Das IMU Institut forscht und berät zu Fragen betrieblicher, branchenbezogener und regionaler Entwicklung.“ Schwerpunkte setzt IMU unter anderem in den Bereichen soziale Arbeits- und Technikgestaltung, Stadt- und Regionalentwicklung, nachhaltige Umweltvorsorge und Ressourcenschutz sowie Internationalisierung von Arbeit und Wirtschaft.
IMU erklärt stolz, sich ausschließlich aus Projektarbeit selbst zu finanzieren. WRA
PS: Wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat: Dieser Beitrag wurde im Jahre 2014 geschrieben und mehrfach veröffentlicht. Doch die Vorahnungen der GewerkschafterInnen von damals haben sich erfüllt. Leider. So wurde vor wenigen Tagen bekannt: Der Autozulieferer Conti schließt sein Werk in Nürnberg.
Denken Gewerkschafter etwa vorausschauender als die hochbezahlten Konzernmanager?