09.11.2018
Bioökonomie im Fokus / Kunststoff aus Chicorée
Der Rektor der Hochschule Hohenheim freute sich und durfte das neue „Bioraffinerie-Technikum“ feierlich eröffnen: Am Lindenhof in der Gemeinde Eningen (Kreis Reutlingen im südlichen Baden-Württemberg) entsteht eine neue praxisnahe Testanlage, um aus Biomasse Kunststoff herzustellen.
Der Lindenhof ist ein Bauernhof außerhalb des kleinen Ortes, der zur Universität Hohenheim gehört. Dort erprobt die Uni bereits einige Forschungsergebnisse in der Praxis, unter anderem ist dort auch eine große Biogasanlage (2.200 m3 Biogas pro Tag) aufgebaut. Ein BHKW erzeugt jährlich jeweils rund 1,8 Mio. kWh Strom und Wärme.
„Die Bioökonomie ist das Leitthema der Uni Hohenheim und einer ihrer drei Forschungsschwerpunkte“, so Rektor Prof. Dabbert bei seinem Grußwort. Die Hochschule feiert in diesem Jahr ihr 200-jähriges Bestehen. Ziel der Bioökonomie ist es, die weltweite Ernährung – auch unter den sich verschärfenden klimatischen Voraussetzungen – zu sichern, die Agrarproduktion nachhaltig zu gestalten und die Nutzung der Biomasse auszubauen. Und so könnte mit dem neuen Gebäude und den Forschungen dort bald der Bauernhof der Zukunft Realität werden, auf dem ein Bioreaktor zur Kunststoffproduktion steht.
Das Projekt ist eingebettet in einige weitere Forschungs- und Projektarbeiten in Landes-, Bundes- und Europäischem Kontext. Ein wichtiger Aspekt ist auch die regionale Wertschöpfung, die durch einen Bauernhof generiert werden kann, wenn dieser zum Produzenten von Kunststoff-Vorprodukten wird.
Im neuen Technikum ist ein Bioreaktor im Labormaßstab aufgebaut und wurde bei der Einweihung in Funktion gezeigt. Ein größerer Reaktor, der dann im realen Alltag des Hofes seine Arbeit leisten soll, wird in den kommenden Wochen installiert, erste Komponenten sind bereits vor Ort verbaut.
Dafür sind im neuen Bioraffinerie-Technikum nun die Voraussetzungen geschaffen: Ein größeres Gebäude – ehemals das Schlachthaus des Hofes – wurde zum Technikgebäude umgebaut.
Die Reaktoranlage selbst soll modular aufgebaut werden, so können weitere Module (z.B. für andere Eingangsstoffe) einfach ergänzt bzw. ausgetauscht werden. Wichtig ist das auch, um die Technik zukünftig günstig einsetzen zu können. Die Reaktoren sollen dezentral Verwendung finden und durch die Anzahl den Skaleneffekt bei den Kosten zu erreichen. Auch unter Umweltgesichtspunkten sind große Transportwege für die Biomasse nicht sinnvoll.
Wie wird nun das HMF erzeugt, das Vorprodukt für die Kunststoffherstellung ist? Ausgangsstoff ist derzeit Miscanthus, eine Schilfgrasart, die bereits Bedeutung als Pflanze zur energetischen Verwertung hat. Miscanthus wurde erst vor einiger Zeit in die Liste der Pflanzen aufgenommen, die von Landwirten auch z.B. auf Brachflächen oder im Randbereich von Feldern zur ökologischen Stabilisierung aufgenommen wurde. Gleichzeitig wird mit dieser Auswahl eine Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion vermieden, zumal Miscanthus auch auf vielen Flächen angepflanzt werden kann, die zur Nahrungsmittelproduktion gar nicht geeignet sind.
Zwei weitere Module für die Anlage sind derzeit in Vorbereitung: Zum einen soll die Chicorée-Rübe (die Blätter werden ja als Salat gegessen, die darunterliegende Rübe ist ansonsten jedoch unbrauchbar) als Ausgangsstoff fungieren. Ein zweites Modul soll Altbackwaren als Grundstoff aufnehmen. In beiden Fällen können also auch Reststoffe eingesetzt werden, die ansonsten entsorgt werden müssten.
Unabhängig vom Eingangsstoff wird im Reaktor dann ein Kunststoff-Vorprodukt namens HMF (Hydroxymethylfurfural) erzeugt. Sollte sich die Technik durchsetzen, kann dieser Grundstoff dann in wässriger Form (z.B. per Tankwagen) von den Bauernhöfen abgeholt und in einem Chemiewerk weiterverarbeitet werden. Die Energieintensität bei der biologischen HMF-Produktion wird ähnlich hoch wie bei der Produktion als Erdöl geschätzt, wobei die genauen Wirkungsgrade noch nicht klar sind, die große Testanlage wird ja derzeit erst aufgebaut. Die nährstoffreiche Lösung, die bei der Reaktion übrigbleibt, kann über die lokale Biogasanlage wieder in den Kreislauf eingespeist werden.
Direkt aus HMF kann z.B. Nylon hergestellt werden; Ziel ist aber auch, einen neuen Kunststoff namens PEF zu produzieren. Dieser ähnelt dem bekannten PET, ist aber belastbarer und kann daher z.B. im Verpackungsbereich zu dünneren Schichten und damit zu weniger Verpackungsmüll führen.
Das Recycling kann bis auf weiteres direkt mit dem aktuellen PET-Recycling erfolgen, daher wird auch kein Weg zu bioabbaubaren Kunststoffen verfolgt. Die Idee ist eher, einen hochspeziellen Kunststoff herzustellen, dessen Verkaufspreis dann auch attraktiv hoch ist und deren Abnehmer (wie z.B. die Autoindustrie z.B. für Autositze o.ä.) möglichst in der Nähe beheimatet sind. Chemisch sind die bio-HMF-Kunststoffe von den herkömmlich erzeugten nicht zu unterscheiden. Hinsichtlich der aktuell wieder diskutierten Mikroplastik-Belastungen verhält sich der aus Biomasse erzeugte Kunststoff auch analog dem üblichen Kunststoff. Insofern ist es eine Lösung, um Bioökonomie zu stärken und vom Öl wegzukommen. Eine Patentlösung für den wachsenden Kunststoffverbrauch und -Müll ist es jedoch nicht.
Die zuständige Fachgebietsleiterin Prof. Andrea Kruse betonte noch die Bedeutung der Anlage im aktuellen Forschungskontext: Das EU-Project GRACE läuft bis 2022 und beschäftigt sich mit dem Anbau von Pflanzen auf sog. marginalen Böden, die nicht zur Futter- oder Nahrungsmittelproduktion geeignet sind. Im Landesprogramm B4B wird unter anderem gemeinsam mit dem Karlsruher KIT die Bioraffinerie in Baden-Württemberg erforscht.
Eine Vision für den Hof ist auch bereits visualisiert: In einem Modell (Bild) ist der Hof zukünftig vollständig mit PV belegt, die bereits bestehende Biogasanlage deckt Strom- und Wärmebedarf und der Bioreaktor verarbeitet Bioabfälle zu Kunststoff-Vorprodukten.
Um die Zukunft dieser Technik noch weiter abzurunden, bietet die Uni Hohenheim auch den Studiengang „Nachwachsende Rohstoffe und Bioenergie“ als Master- und Bachelor-Studiengang an, um zukünftig auch genügen Fachleute in diesem Bereich zur Verfügung zu haben. Diese können zukünftig dann auch Arbeitsplätze im Bereich Entwicklung, aber auch bei z.B. Wartung dieser Anlagen erwarten.
Jörg Sutter