09.10.2020
Wundermittel Wasserstoff? Teil 3
Ein Bericht von Götz Warnke
Geht es nach dem Willen der deutschen Bundesregierung mit ihrer im Juni diesen Jahres verkündeten Nationalen Wasserstoffstrategie, dann ist Wasserstoff (H2) quasi eine Allzweckwaffe für die Energiewende und gegen den Klimawandel. Und so wittern viele Interessierte und Engagierte jetzt "Morgenluft": Von dubiosen Aktienempfehlungs-Portalen ("Megatrend Wasserstoff") über Energiekonzerne, Gasespezialisten, Brennstoffzellen-Hersteller bis hin zu ganzen Regionen. So weit, so gut, doch wie so oft: "der Teufel liegt im Detail". Und da hat der Einsatz von Wasserstoff je nach Gebiet sehr unterschiedliche Herausforderungen.
Netze
Wie wir bisher gesehen haben, lässt sich Wasserstoff - von zentralen Speicheranlagen und Großverbrauchern wie der Stahlindustrie einmal abgesehen - in den meisten Fällen nicht sinnvoll vor Ort erzeugen. Bei einer nationalen Wasserstoff-Wirtschaft, ja schon bei einer regionalen, stellt sich unabweislich die Frage:
Wie sollen die gewaltigen Mengen H2 nicht nur produziert, sondern an die entsprechenden Nutzer auch distribuiert werden? Lieferungen per LKW, die bei lokalen Wärmenetzen wie in Hamburg-Bergedorf (→ Teil 1) experimentell noch funktionieren können, stoßen schon bei geringfügig größeren Dimensionen an ihre Grenzen. Als mögliche Lösung erscheint kurzfristig eine zusätzliche Einspeisung von H2 mit etwa 5% ins Erdgasnetz und langfristig eine Umrüstung des Erdgasnetzes auf Wasserstoff.
Für Versorgungsnetze in Deutschland ist die Bundesnetzagentur (BNetzA) zuständig, und die hat sich schon vor einem halben Jahrzehnt über das Thema "Wasserstoff in Netzen" Gedanken gemacht. Durch die "Nationale Wasserstoffstrategie" haben entsprechende Überlegungen nochmals besonderes Gewicht erhalten. Dabei geht es natürlich auch um regulatorische Fragen, wie die Mitte Juli diesen Jahres von der Bundesnetzagentur eingeleitete "Marktkonsultation zur Regulierung von Wasserstoffnetzen" zeigt. Schwerwiegender sind jedoch die Fragen einer technischen Umstellung des herkömmlichen Erdgasnetzes. Am 5. August 2020 veranstaltete die BNetzA einen Workshop "Netzentwicklungsplan Gas 2020-2030". Das technische Referat hier unter dem Titel "Netzumstellung von Erdgas auf Wasserstoff - Wasserstofftransport im Gas-Fernleitungsnetz: Eine techno-ökonomische Einordnung" hielt Professor Detlef Stolten vom Forschungszentrum Jülich. Stolten geht dabei von zwei CO2-Reduktionsszenarien für das Jahr 2050 aus (S. 5f.): Ein 80%-Szenario, das sich auf Industrie und Verkehr beschränkt, und 4 Mio. t H2/Jahr erfordert, sowie ein 95%-Szenario, das zusätzlich Gebäude und "Energie" (!) mit einschließt, und 12 Mio. t H2/Jahr benötigt. Die Wasserstoff-Kosten für Großabnehmer (S.16): 10,4 ct/kWh beim 80%-Szenario, 13,3 ct/kWh bei 95% - das können die Erneuerbaren günstiger. Abgesehen davon, dass diese Szenarien kaum mit den Pariser Klimazielen kompatibel sind, wird immer noch ein erheblicher Import-Bedarf von energieaufwendig verflüssigtem Wasserstoff bestehen bleiben. Daneben gibt es ein Problem mit dem Pipeline-Netz: rund 20% der Leitungen lassen sich wegen der Verwendung der Stahlsorte L415 oder eines zu geringen Drucks <70 bar gar nicht für die H2-Verteilung umrüsten. Und für die übrigen 80% gibt es vier Optionen bei der H2-Ertüchtigtung (S.20 ff.), die alle energieaufwendig und teuer sind:
- a) Kaum Änderungen, aber vermehrte Instandhaltung und Reparaturen wegen der Degeneration der Leitungen
- b) Aufbringen eines Dichtungsbelags - es gibt allerdings bisher keine erprobte Abdichtungsmethode in großem Maßstab.
- c) Beimischung weiterer Gase, um die Lebensdauer des Pipeline-Stahls zu verlängern. Da die Gase entweder feuergefährlich oder schädlich für Brennstoffzellen sind, müssen sie am Ende der Leitung herausgefiltert werden.
- d) Eine zweite, widerstandsfähigere Leitung in die erste schieben.
Ansonsten verbleibt nur der Neubau von Netzleitungen. Auf Grund solcher Unsicherheiten ist gerade erst das neue Kompetenzzentrum H2Safety@BAM bei der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) aus der Taufe gehoben worden, das die Wasserstoffstrategie hinsichtlich technischer Qualität und Sicherheit stützen soll.
Ist das jetzt wirklich der große Durchbruch für den Klimaschutz? "Würde heute die gesamte Windkapazität in Wasserstoff umgewandelt, hätten wir einen Anteil von zehn Prozent im Erdgasnetz. [...] Wir selbst wollen an die 20 bis 25 Prozent ran", zitiert das Fachmagazin HZwei (01/2019, S. 28) Professor Gerald Linke, den Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW). Dieses Zitat mach dreierlei deutlich:
- 1. Der heutige Ausbau der Erneuerbaren Energien ist völlig unzureichend - das muss auch die Bundesregierung seit langem wissen. Selbst wenn man die installierte Windleistung verzehnfachen würde, hätte man zwar 100% grünen Wasserstoff im (Gas-)Netz, aber immer noch nichts für die Verkehrswende, die Stromwende, die Dekarbonisierung der (Stahl-)Industrie (→ Teil 2) etc. getan.
- 2. Nicht alle Stakeholder/Interessentengruppen der Nationalen Wasserstoffstrategie haben primär eine schnelle, umfassende Umstellung auf grünen Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien im Blick. Doch das Pariser Abkommen lässt uns keine Zeit mehr; vor 2040 muss das Energiesystem umgestellt sein.
- 3. Da im Wasserstoffnetz der Druck nicht beliebig abgesenkt werden kann, wenn nur 20 bis 25 Prozent H2 aus regenerativen Quellen zur Verfügung stehen, muss der restliche Wasserstoff wohl aus anderen Quellen kommen, z.B. als blauer, türkiser, grauer oder auch nuklearer Wasserstoff.
Jetzt werden auch die Gründe für die große Begeisterung in Wirtschaftskreisen hinsichtlich der Nationalen Wasserstoffstrategie und ähnlicher europäischer Projekte deutlich: Die Gas- und Energie-Versorger können so weiter machen wie bisher, da es wegen des Mangels an Erneuerbaren Energien noch lange an größeren Mengen grünem H2 fehlen wird. Andere wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) bauen schon mal mit Forderungen vor: grüner, blauer und türkiser Wasserstoff sollten gleichberechtigt als CO2-neutrale Herstellungsoption anerkannt und in den Verkehr gebracht werden. Da passt es prima, dass nun auch Russland über die Nordstream 2-Pipeline Wasserstoff nach Deutschland liefern will.
In Europa, wo die Lobby der Gaswirtschaft seit langem ein entscheidendes Wort bei der Netzplanung mitzureden hat, postulieren Stromnetzbetreiber Tennet und Gasnetzbetreiber Gasunie in einer neuen Studie, dass eine Koordination von Strom- und Gasnetzausbau auf europäischer Ebene unabdingbar für eine Energiewende sei. Und eine Gruppe von elf Fernleitungsnetzbetreibern aus neun EU-Staaten stellt in diesem Sommer in Brüssel ein Konzept für eine reine Wasserstofftransportinfrastruktur vor, die fast von Schweden bis Gibraltar oder vielleicht sogar bis Marokko reicht, in der Endstufe 23.000 Kilometer lang ist und zu 75 Prozent aus umgewidmeten Erdgasleitungen besteht. Die dafür in Aussicht genommenen Gelder von bis zu 64 Mrd. € wirken angesichts der realen Kostenentwicklung bei anderen Infrastrukturprojekten wie ein Schnäppchen. Staatlich gef(o/ö)rderter Netz-Umbau sowie -Ausbau kann sehr profitabel sein.
Und wie passend, erscheint gerade jetzt eine neue Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) auf der Bühne, gefördert durch das Bundeswirtschaftsministerium. Zentrale Aussage in ihrem 1. Teil: Die grüne Wasserstoff-Herstellung ist am günstigsten mit konzentrierter Solarthermie! Wo das möglich ist? In Marokko, aha!
Kommentar
Ja, richtig, wir brauchen Wasserstoff zur Dekarbonisierung der Industrie und als Speichermedium für Überschuss-Strom. Weniger wichtig ist H2 schon für die Wärme- und Verkehrswende - da gibt es bessere Optionen, auch wenn einige Akteure/Profiteure das anders sehen möchten. Entscheidend jedoch ist, dass es sich bei dem Wasserstoff um grünen Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien handelt - und nicht etwa um türkisen oder blauen. Denn letztere sind nur ein "Verschiebebahnhof" für CO2 und die klimapolitische Verantwortung. Doch beim für eine grüne Wasserstoff-Wirtschaft mindestens notwendigen Ausbau der Erneuerbaren Energien - ein Faktor 10-12 wäre angemessen - hat sich die Bundesregierung im vergangenen Jahrzehnt stark zurückgehalten bzw. noch stärker gebremst. Und alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Regierungsparteien ihren Kurs sogar fortsetzen wollen. Was ist also diese Wasserstoffstrategie? Sie ist ein riesiges Wirtschaftsförderprogramm, das ganz wenig mit der Energiewende bzw. Klimaschutz zu tun hat, und ganz viel mit den Interessen der alten Energiekonzerne und ihrem zentralistischen Energiesystem (allmächtige Konzerne, abhängige "Verbraucher"). Grüner Wasserstoff dient da nur als "Mäntelchen" für den Einsatz der anderen Farben, wobei die Altmaiersche Wasserstoffstrategie eher einem trojanischen Pferd als einem potemkinschen Dorf gleicht. Wasserstoff als Wundermittel? Für die alte Energiewirtschaft in jedem Fall!
Wundermittel Wasserstoff? Teil 1
Wundermittel Wasserstoff? Teil 2
Wundermittel Wasserstoff? Teil 3