09.10.2020
Schiedsgerichte sind Teufelszeug. Nicht nur beim Freihandel
Eine späte Selbsterkenntnis von Heinz Wraneschitz
Was haben wir "gefremdelt" damals. Dieses Wort hat jedenfalls die FAZ verwendet, um die abgrundtiefe Abneigung großer Teile der Bevölkerung gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP zwischen der EU und Kanada beziehungsweise den USA zu beschönigen.
Nein, wir haben nicht gefremdelt damals: Wir haben uns mordsmäßig aufgeregt! Über die Intransparenz der Verhandlungen; über die zigtausend Seiten Vertragstexte, die selbst Bundestagsabgeordnete nur ohne Mitnahme eines Handys anschauen durften. Was habe ich mich deshalb gefreut, als aus den Reihen des GroKo-Minipartners SPD die frohe Botschaft kam: "TTIP ist bei uns noch nicht durch."
Fünfeinhalb Jahre ist das jetzt her. Fast eine Ewigkeit. Denkt eigentlich noch irgendwer an TTIP? Dabei liegen die Verhandlungen für das Abkommen lediglich auf Eis. Aber nicht wegen der Bedenken der SPD im Bundestag, sondern wegen eines großherrlichen "Präsidenten" der USA, der seit Amtsantritt auf Abschottung und Zölle setzt, statt auf friedliches miteinander Handeln - was auch ohne Abkommen ginge. CETA wiederum wird "vorläufig angewendet". Das hat der Europäische Gerichtshof so entschieden. Dabei ist es bis heute noch nicht einmal durch den Deutschen Bundestag ratifiziert. Ob es deshalb so still ist um CETA? Vielleicht ist dieses Stillhalten ja auch Taktik der deutschen Politik, um sich vor weiteren Bürger-Protesten zu schützen. Oder die Regierung hegt die Hoffnung, dass irgendwann gar niemand mehr an CETA denkt. Oder an TTIP, das möglicherweise ein anderer US-Präsident - oder ein Wandel-Trumpel? - wieder ganz oben auf seine Wunschliste setzen könnte.
Auch wenn immer wieder von Chlorhühnchen die Rede war:Bei mir und dem Großteil der damaligen TTIP-Gegner ging die Angst um vor den darin vorgesehenen privaten, intransparenten Schiedsgerichten. Da half es auch nichts, dass der Europäische Gerichtshof festgestellt hatte: "Die sind mit Europäischem Recht vereinbar." Für mich jedenfalls waren sie damals der Inbegriff des Bösen; Teufelszeug; der Beweis, dass am Ende die Firma Recht bekommt, die das meiste Geld hat, um die besten Anwälte zu bezahlen und am längsten schiedsrichten lassen kann.
Schon damals war mir wie vielen anderen klar: Als Privatmensch kann ich mich nicht wehren. Weder gegen Chlor-gereinigte Hühnchen, noch gegen die Importe von Genfleisch und Gensojabohnen. Denn bis heute ist mir ein Horror, dass solche Produkte - irgendwo hineingepanscht - auf meinem Tisch und in meinem Magen landen könnten.
Doch irgendwie ist es an uns allen vorbeigegangen: Schiedsgerichte gibt es nicht nur in Freihandelsabkommen. Auf den ersten Blick könnte man den Eindruck haben: all diese Kammern tun uns gut. Jedenfalls wenn der erste Blick die Webseite des Bundesjustizministeriums trifft. "Ein Schiedsverfahren ist dabei ein Verfahren der verbindlichen privaten Streitbeilegung, das an die Stelle eines Verfahrens vor einem ordentlichen Gericht tritt", ist dort zu lesen. Aha, Privat gegen Privat. Klingt toll - und ist es oft auch. Wenn auch offensichtlich ein gutes Geschäft für spezialisierte Anwälte, die sich dann "Mediatoren" oder ähnlich zu nennen pflegen.
Aber Schiedsgerichte treten auch dann auf den Plan, wenn Großkonzerne uns abzocken wollen. Uns: Das sind nicht wir Einzelnen, sondern die Gesamtheit unseres Volkes, vertreten durch Parlament und Regierung. Ein aktuell krasses Beispiel eines solchen - aus meiner Sicht pseudo-rechtlichen -Verfahrens läuft zurzeit vor dem OGEL ab, dem "Oil, Gas & Energy Law - Global Energy Law & Regulation Portal".
Die Streithansel sind der Schwedische Vattenfall-Konzern und die Bundesrepublik Deutschland. Wobei "zurzeit" irreführend ist: Das so genannte Streitschlichtungsverfahren unter der Nummer ARB12/12 läuft - bereits seit 2012. Natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit und deshalb an derselben vorbei. Augenscheinlich soll es die Kassen des Stromriesen füllen. Die Schweden wollen sich jedenfalls nicht mit dem deutschen Atomausstiegsgesetz gemein machen, in dem auch das Ende der Atommeiler Krümmel und Brunsbüttel besiegelt wurde, die Vattenfall betrieben hat.
Geldverdienverfahren sind ja für den etwas Tolles, der gewinnt. Auf der anderen Seite stehen jene, die verlieren. Gut, das könnte in diesem Fall die Bundesrepublik sein, ein Gebilde, auf das wir meist nur alle vier Jahre bei Wahlen für den Bundestag Einfluss ausüben können. Dann wird koaliert und eine Regierung bestimmt. Die arbeitet quasi in unserem Auftrag, ist also fürs Geldausgeben zuständig - und auch für solche geheimen Schiedsgerichtsverfahren.
Die von uns Gewählten, die Abgeordneten also, haben die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren. Sie können nachfragen, was Kanzlerin und Minister*innen mit unserem Steuergeld so anstellen. Und genau das hat dieser Tage die Linken-Bundestagsfraktion im Falle von ARB12/12 getan. Was das Verfahren vor dem Schiedsgericht denn bislang so gekostet hätte, wollten die Parlamentarier in ihrer "Kleinen Anfrage" mit der Drucksachen-Nummer Drucksache 19/21805 von der Regierung wissen. Immerhin sechs Seiten lang sind die
Antworten auf insgesamt 14 Fragen, nachzulesen in Drucksache 19/22571.
Doch es reicht eigentlich, die ersten beiden Punkte genauer anzusehen. Frage 1: "Auf welche Summe beläuft sich aktuell die Klageforderung von Vattenfall im ICSID-Schiedsgerichtsverfahren ARB 12/12 gegen die Bundesrepublik Deutschland ohne und inklusive Prozesszinsen?"
Antwort der Regierung: "Vattenfall hat am 22. März 2019 seine Klageforderung mit rund 4.381.938.000 Euro ohne Prozesszinsen und rund 6.095.521.000 Euro mit Prozesszinsen beziffert." Aha, nur sechs Milliarden. Vielleicht gewinnt unsere Bundesrepublik ja, dann bleiben die im Staatssäckel.
Und Frage 2: "In welcher Höhe sind seit Beginn des Verfahrens bislang Rechtsverteidigungskosten auf Seiten der Bundesrepublik Deutschland (Personal-, Sach-, Prozess-, Mandats- und sonstige Kosten) entstanden?"
Darauf antwortet unsere Regierung am 16. September 2020: "Im Zusammenhang mit dem anhängigen Schiedsgerichtsverfahren ARB/12/12 sind auf Seiten der Bundesrepublik Deutschland Rechtsverteidigungskosten von bislang 21.713.633,49 Euro (Stand 31. August 2020) entstanden." Das Geld dürfte weg sein, egal ob Sieg oder Niederlage am Ende steht.
Damit stellt sich nicht mehr die Frage, ob ein Privatmensch oder ein Verein gegen einen Konzern vor einem Schiedsgericht klagen wird. Zum Beispiel wegen Verstößen gegen ein Freihandelsabkommen. Denn wer von uns hat einfach mal 22 Mio. Euro auf`m Konto oder bei der Hand?