08.09.2023
Eine Elektronik-Niere ist keine Mobilitätswende
Ein Kommentar von Heinz Wraneschitz
Ganz am Anfang, nur damit kein Missverständnis aufkommt: Ich bin begeisterter E-Autofahrer! Seit fünf Jahren nutze ich E-Mobile – zuerst eine ZOE, seit zwei Jahren einen ID3.
Von „Nine Million Bicycles“ in Peking sang Katie Melua schon 2005*. Unser Kanzler Olaf Scholz setzte am Dienstag auf der Münchner Messe IAA für Deutschland das Ziel: „Eine Million Ladesäulen bis 2030“. Denn dann – 25 Jahre nach den sechs Millionen Rädern in Peking – will sollen Scholz 15 Millionen E-Autos auf die Straßen in diesem unserem Lande bringen.
Ich nenne dies anders: den öffentlichen Raum verstopfen. Denn ich bin sicher - und das sage ich hier auch klipp und klar: Elektroautos sind nicht die Lösung für die Verkehrswende! Sie sind höchstens ein Zwischenschritt, wenn auch ein sehr wichtiger, hin zur echten, notwendigen Umstellung der Mobilität auf klimaneutralen Betrieb.
Die IAA: Als die Messe noch in Frankfurt stattfand, stand ihr Name schlichtweg für das, was sie tatsächlich ist: „Internationale Automobil-Ausstellung“. Als sie 2021 nach München umzog, verpasste ihr der Autoherstellerverband VDA zumindest im Namen ein neues Image: Sie heißt nun „IAA MOBILITY“ und verspricht auch für die Ausgabe 2023, die „Zukunft der Mobilität“ zu präsentieren.
Doch wer sich dort umhört und -sieht, bekommt einen anderen Eindruck. Echte Mobilität ist nur das Feigenblatt im Namen. Stattdessen zeugt die Messe vom beharrlichen Versuch der Autoindustrie, einerseits die Verbrenner bis zur letzten Dieselexplosion auszulutschen und wenn möglich durch so genannte E-Fuels den schleichenden Tod noch weiter hinauszuzögern. Andererseits stellen Hersteller Kleinigkeiten als nachhaltig dar. So wie BMW den Ersatz von Chrom in der altbekannten Kühlerniere durch LED.
Unterschlagen wird dabei von den PR-Leuten wie auch von der Politik, wahrscheinlich bewusst: Der Austausch von Verbrenner- durch E-Autos ist NICHT die Lösung für die notwendige Mobilitätswende. Denn jedes dieser individuellen Menschen-Schutzgitter braucht viel Platz, vor allem an den 23 Stunden des Tages, an denen es nur rumsteht. Die Zahl der „Herumsteher“ steigt übrigens ohnehin schon kontinuierlich, wie die laufenden Statistiken des zuständigen Bundesamts immer wieder beweisen. Und selbst in der einen Stunde durchschnittlicher Tagesfahrzeit ist der Stillstand nicht zu vermeiden: Ob an Roten Ampeln, am Parkplatz des Supermarkts oder im tagtäglichen Stau.
Doch Mobilität muss mehr sein als die Freiheit, den Kopf durch den Fahrtwind im Cabrio auslüften zu lassen. Leider aber ist gerade am Land der Individualverkehr heute – und wohl noch auf längere Zeit – das Normale. Denn der ÖPNV erreicht zwar viertelstündlich die letzte Ecke in Städten, aber eben nicht das 100-Einwohnerdorf am Land.
Mobilität bedeutet: Ausbau von Radwegen, und zwar so, dass die Fahrenden nicht Angst um ihr Leben haben müssen, weil nur 70 cm Breite zur Verfügung stehen. Und konsequentes Entfernen von Falschparkern, auch wenn sie „nur mal kurz einkaufen“ sind.
Seit Jahrzehnten wird über selbst fahrende Autos schwadroniert, ja vielleicht stehen solche wirklich kurz vor dem Durchbruch. Doch statt um mit Tempo 200 autonom über Autobahnen zu rasen, sollten selbstfahrende Fahrzeuge eher für`s flache Land als Anrufsammeltaxis oder zum Car-Sharing entwickelt werden. Dann nämlich wäre es auch für Menschen überall möglich, ohne Führerschein und eigenes Auto zum Arzt, zur Disco (die heute Club heißt) oder einfach zum Verwandtenbesuch ins nächste Dorf zu kommen.
Was die auf der IAA versprochene Mobilität wirklich bedeuten sollte, war dieser Tage in einer bemerkenswerten Sendung des Bayerischen Rundfunks zu hören. Dort hat die Medienethik-Professorin Claudia Paganini die Notwendigkeiten des Umdenkens hervorragend erklärt. Und auch die Pflicht der Medien, darüber aufzuklären.
Würden Menschen wie Paganini oder Mobilitätsfachleute von der Politik erhört, von den (uns!) Medien mehr wahrgenommen, dann bräuchten wir völlig andere Ziele als Scholzens eine Million Ladesäulen oder 15 Millionen E-Autos bis zum Jahr 2030. Wichtiger wären zum Beispiel sechs Millionen Lasten-Fahrräder für Deutschland. Sichere Radwege zu jedem noch so kleinen Ort und in den Städten. Oder wirklich funktionierende Anschlüsse beim ÖPNV statt jahrzehntelang dauerndem Ausbau singulärer ICE-Strecken. Dann könnte ich nämlich sogar auf mein E-Auto am Land verzichten.
*Anmerkung der Redaktion. Ein schönes Video gibt es auch zu dem Titel „Electric Car (Lyrics)“ von den grandiosen „They Might Be Giants“. Das Stück erschien 2009 auf dem Album „Here comes Science“.