07.10.2022
Die Illusion vom Atom
Ein Meinungsbeitrag von Götz Warnke
Nachdem Deutschland den kommenden Winter wohl ohne neue Lieferungen von Gas aus Russland durchstehen muss, schwappen ständig mehr oder minder kompetente Lösungsvorschläge in die Medien. Dass dabei mitunter auch der Wärmemarkt mit dem Strommarkt verwechselt wird – was soll‘s. In dieser Kakophonie taucht besonders häufig das Thema Atomenergie auf, und zwar – oft bunt gemischt – als Weiterbetrieb, Reaktivierung oder Neubau. Will man diese Diskussion mit ihrem Für-und-Wieder sowie den dahinterstehenden Interessen verstehen, muss man die drei Themenkreise getrennt betrachten.
Weiterbetrieb von Atomkraftwerken
Mit Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Emsland in Niedersachsen sind in Deutschland noch drei große Druckwasser-Reaktoren in Betrieb. Die drei Reaktoren sind hierzulande die neuesten, gehören zum weitgehend standardisierten „Konvoi“-Typ, und sind – vom Störfall „Mensch“ mit Dingen wie falsch montierten Dübeln, vertauschten Stromkabeln etc. einmal abgesehen – weitgehend sicher. Die drei Atomkraftwerke (AKWs) haben zwar keinen Fernwärmeanschluss, können also nicht Gas im Wärmebereich ersetzen, aber sie können durchaus grundsätzlich zuverlässig Strom liefern. Das zeigen auch die hohen Verfügbarkeiten von jeweils deutlich über 90 Prozent.
Nun möchte Bundeswirtschaftsminister Habeck die Reaktoren, die alle zum 31.12.2022 vom Netz gehen sollten, länger – d.h. bis Mitte April 2023 – laufen lassen. Der Grund: Sollte es zu einem sehr kalten Winter und daher zu einem Gasmangel kommen, weshalb dann auch die geringen, noch für die Stromerzeugung eingesetzten Gasmengen eingespart werden müssten, könnten die AKWs aushelfen. Zudem könnte der Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern den Strompreis in Deutschland senken.
Was also sollte am Weiterbetrieb so problematisch sein? Wozu die ganze Aufregung der Umweltverbände?
Der Teufel liegt wie immer im Detail. So kann der Reaktor Emsland nach Aussage seines Energiekonzerns RWE nicht weiter betrieben werden, weil nach dem 1. Januar 2023 schlicht das Personal fehlt: die heutigen Mitarbeiter haben sich inzwischen andere Jobs an anderen Orten gesucht, planen Umzüge oder den Vorruhestand – Emsland fällt also aus. Bei den beiden anderen Kraftwerken, die nun am Netz bleiben sollen und rund 4 Prozent des deutschen Stroms erzeugen, hat man mit Hinblick auf die Abschaltung Ende 2022 auf die große, alle 10 Jahre fällige Sicherheitsüberprüfung im Jahr 2019 verzichtet, und nur die kleineren, jährlichen Revisionen durchgeführt. Eine große Revision nun nachzuholen, ist kaum möglich, da sich diese über mehrere Monate erstreckt, und so genau in die Zeit fallen würde, in der man die AKWs eventuell bräuchte. Jetzt sind zudem bei Neckarwestheim 2 wieder Risse in Dampferzeugerheizrohren aufgetreten; wie sicherheitsrelevant die sind, entscheidet Mitte Dezember ein deutsches Gericht.
Und nicht zuletzt: Die Explosionen an den Pipelines Nordstream 1 + 2 zeigen, dass große Energie-Infrastrukturen auch lohnende Anschlagsziele sind – sowohl für Terroristen, als auch für ausländische Geheimdienste.
Insofern ist es mehr als fraglich, ob die zwei verbleibenden Reaktoren wirklich einen Beitrag zur Energie-Sicherheit liefern können, oder nicht vielmehr eine Quelle weiterer Unsicherheit sind. Jedenfalls wäre jedes Riesenrad auf dem Jahrmarkt bei solch fehlenden Sicherheitsüberprüfungen behördlich längst stillgelegt worden.
Atomkraftwerke reaktivieren
Diese Idee kommt vor allem, aber nicht nur aus Bayern, wo man die Energiewende (Stichwort: 10 H bei der Windkraft) gründlich verschlafen hat: Nachdem schon im Juli Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) sich dafür stark gemacht hatte, stößt jetzt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ins gleiche Horn.
Und auch die Gegenargumente sind teilweise die gleichen wie beim Weiterbetrieb bzw. der Laufzeitverlängerung der drei obigen Kernkraftwerke:
- Es fehlt den alten Kraftwerken nach jahrelangem Stillstand schlicht an geeignetem technischen Personal für den Betrieb. Und das bekommt man nicht so schnell herbeigezaubert. Einen Reaktor zu „fahren“ ist nun mal eine andere Dimension als einen Rollator zu fahren – das sollte selbst Dampfplauder-Politikern (DPP) wie Markus Söder eigentlich klar sein.
- Bei den alten Reaktoren fehlt meist die alle 10 Jahre fällige Sicherheitsüberprüfung; diese müsste vor Inbetriebnahme durchgeführt werden. Und das kann bei den vielen Reaktoren dauern, z.B. bis zum Sommer des übernächsten Jahres.
- Die alten Atommeiler sind anfälliger als die neueren Konvoi-Reaktoren. Das ist zum Teil typenbedingt: Siedewasserreaktoren wie Fukushima oder Grundremmingen, den der bayerische Wirtschaftsminister wieder ans Netz nehmen will, sind weniger gut zu kontrollieren und z.T. teurer zu reparieren. Den traditionsreichen deutschen Elektrokonzern AEG haben sie einst in den Niedergang getrieben. Auch zeigen die Verfügbarkeiten von meist unter 90 % in diese Richtung. Will man etwa ernsthaft das Kernkraftwerk Krümmel bei Geesthacht an der Elbe, den 2011 stillgelegten, einstmals größten und wohl auch gefährlichsten Siedewasserreaktor der Welt, wieder ans Netz gehen lassen??
- Viele Altreaktoren entsprechen heute nicht mehr den Sicherheitsanforderungen, müssten also technisch nachgerüstet werden.
- In viele Altreaktoren müssten frische Brennstäbe eingebracht werden – ein größerer Anteil des Urans der letzten Jahre in der EU stammt aus Russland …
Entscheidend aber ist, dass die träge reagierenden AKWs nicht zu einem Stromsystem mit einem Anteil von rund 50% Erneuerbaren Energien passen. Als Partner für die fluktuierenden Erneuerbaren bedarf es schnell reagierender Großakkus, Gas- bzw. Wasserstoffturbinen und Pumpspeicherkraftwerke. Atomkraftwerke sind da wirklich „von gestern“.
Neue Atomkraftwerke bauen
Diese Forderung kommt neben den Atom-Lobbyisten vom Verein Nuklearia mittlerweile auch von Politikern wie CSU-Spitzenkraft Andreas Scheuer. Nun ist es menschlich durchaus verständlich, wenn ein Politiker, der als Bundesverkehrsminister bezüglich Verkehrs- und Energiewende kaum mehr Neues auf die Reihe bekommen hat als die Einführung von elektrischen Kleinstrollern, sich ansonsten in wohlbekannte, alte Technologien flüchtet. Doch das macht den Einsatz einer solchen Technologie deshalb noch nicht plausibler.
Abgesehen von den Atomwaffen-Mächten gibt es weltweit kaum Neubauprojekte. Und selbst von den britischen (6 Stück) und französischen (14 Stück) AKW-Neubauplänen dürfte wenig Wirklichkeit werden. Das hat einen einfachen Grund: Neue Atomkraftwerke produzieren keinen Strom, sondern nur horrende Kosten. Und es ist völlig egal, ob man nach Flamanville/Frankreich, Hinkley Point C/England oder ins finnische Olkiluoto schaut. Und auch jenseits des Atlantiks, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sind die Kostenexplosionen möglicherweise unbegrenzt. Sollten diese Reaktoren irgendwann in ferner Zukunft mal ans Netz gehen, dann produzieren sie Strom zu kWh-Kosten, die um ein Vielfaches über den für Sonne und Wind liegen.
Doch damit nicht genug: Auch die neuen Reaktoren passen nicht in ein flexibles Strommarktdesign, sie sind wegen der Urangewinnung und der betonlastigen Bauweise („Containment“) recht CO2-lastig, und die Erderhitzung mit Wassermangel und ausgetrockneten Flüssen wird diesen Dampfkraftwerken künftig noch größere Probleme bereiten. Da hilft es auch nichts, neue AKWs einfach am Meer zu errichten – dort wartet bereits die nächste Quallenplage.
Last, but not least: Die weltweiten Uranvorräte sind begrenzt. Selbst wenn man etwa nur die heutigen Reaktoren weiterlaufen ließe, würden die Vorräte allenfalls noch ca. 67 Jahre reichen. Wenn man nun die Anzahl der weltweiten Reaktoren verdoppelte … könnten die Eigner vor „Brennschluss“ ihre Investitionen gar nicht mehr herein holen. Deshalb braucht man für ein dauerhaftes atomares Energiesystem den „Schnellen Brüter“, den Einstieg in die Plutoniumwirtschaft. Das wusste bereits in den 1970ern schon der deutsche Nuklearpapst Prof. Dr. Wolf Häfele, der sich für den Bau eines letztlich gescheiterten kleinen Brüter-Prototyps in Kalkar einsetzte. Der weltweit einzig richtig große Schnelle Brüter, der den Brennstoff für ein anderes AKW hätte „erbrüten“ können, wurde von den Franzosen in Creys-Malville an der Rhone gebaut. Der „Superphenix“ hatte eine Betriebszeit von Anfang 1986 bis Ende 1998; in diesen 13 Jahren speiste der pannenreiche Reaktor nur für 3 Jahre Strom ins Netz ein.
Die Atomkraft bleibt letztlich eine Illusion, der nur Menschen anhängen, die von Großtechnik fasziniert sind, bzw. die hier ein finanzielles oder politisches Interesse verfolgen.