07.06.2019
Bürgerfreie Dezentralität
„Wir brauchen mehr künstliche Intelligenz“, titelte Ende Mai die Zeitung für kommunale Wirtschaft (zfk). Digitalisierung und Energiewende werden seit einiger Zeit in einem Atemzug genannt, ganz so als ob die Energiewende bislang ohne Computer und IT ausgekommen sei und nun ohne diese neuen Trends der Digitalisierung nicht mehr fortgesetzt werden könnte. Mit dieser Suggestion werden Leser, Hörer und Zuschauer in allen Medien bombardiert. Nun ist das ja alles keine neue Erscheinung. Beobachter und Aktivisten der Solarszene sind es gewohnt, dass in regelmäßigen Abständen eine neue Sau durchs Dorf getrieben und eine final zündende Lösung für den Durchbruch der Erneuerbaren Energien verkündet wird. Da gab es den Strommarkt 2.0, Demand Side Management, Smart Meter und vor allem das Digitalisierungsgesetz. Daneben galt Blockchain als der große Wurf und aktuell wird über PPA (Power Purchase Agreement) philosophiert.
Wir hatten in den DGS News und in der SONNENENERGIE mehrfach über diese Ansätze berichtet und ihre Hintergründe ausgeleuchtet. Es stehen sich längst zwei gegensätzliche Konzepte - oder Narrative, wie man neudeutsch sagt - gegenüber, die eigentlich nicht unter einem gemeinsamen Hut passen. Während Solarfreunde, die sich in der Tradition eines Hermann Scherer sehen, eine Transition hin zu einem komplett dezentralen und demokratischen, von Bürgern und Bürgerenergiegesellschaften bestimmten Energiewesen anstreben, steht dem die alte Energiewirtschaft gegenüber. Sie hat zwar längst den Begriff der Energiewende usurpiert, will aber ihre fossil-basierten Geschäftsmodelle und ihr darin angelegtes Kapital über die Zeit retten. Aus ihren Reihen kommen die digitalen Metaphern, die klug, wissenschaftlich und aufregend klingen und mit medialem Getöse in die Köpfe der Bürger eingetrichtert werden sollen.
Warum jagen die fossilen Energielords ständig eine neue Sau durchs Dorf? Das liegt zum einen daran, dass der ideologische Kampf um die Deutungshoheit, was unter Energiewende zu verstehen sei, nicht entschieden ist. Die Konzerne hatten sich das im Vertrauen auf ihren Medieneinfluss und die Hilfestellung der Merkel-Koalitionen leichter vorgestellt. Die Erkenntnis, dass erneuerbare Energien dezentrale Technologien sind, bleibt bis heute zu stark in den Köpfen der Bürger verankert. Die Energiekonzerne kamen mit ihren Anliegen, ihre Geschäftsmodelle mit den fossilen Brennstoffen beizubehalten gegen den Schwung der dezentral operierenden Gruppen und Initiativen der Solarbewegung nicht an.
Zum anderen ist die Entwicklung der Erneuerbaren Energien, wie auch die technologische Entwicklung insgesamt, so dynamisch, dass die Konzerne ihre Konzepte ständig nachbessern müssen. Das ist nicht etwa einem Digitalisierungsgesetz geschuldet, sondern den Möglichkeiten von Big Data, um es mit einem Schlagwort auf den Punkt zu bringen. Inzwischen haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Konzernen und ihre Strategien verändert und weiterentwickelt. Was sich abzeichnet, sind Konzepte, die von Amazon, Uber und Flixbus entlehnt sind und die zu einer neuen Rolle der alten Monopolisten führen sollen. Marktmacht durch Wissen um die Kunden, lautet das Zauberwort. Der Konsument wird gläsern und umfassend steuerbar. Was in anderen Wirtschaftszweigen längst Realität ist, soll im Energiebereich auch eingeleitet werden. All diese Strategien zielen auf zentrale Kontrolle und Verfügung über die Kundschaft ab.
Aber wie lässt sich ein Zug, der Richtung Dezentralität unterwegs ist, nicht nur stoppen, sondern in die entgegengesetzte Richtung lenken? Im Kampf um die Köpfe standen die traditionellen Volksparteien nach dem Ende der Rot-Grünen Koalition im solaren Abseits. Die SPD, verhangen in ihrer traditionellen Ehe zu Kohle und Bergbau, trieb vor allem nach dem Tode Hermann Scheers, orientierungslos im Fahrwasser der Unionsparteien. Das ideologische Kerngeschäfts der Parteien, den Menschen eine politische und wirtschaftliche Erklärung für Regierungshandeln zu liefern, wurde von den Regierungsparteien nicht mehr ausreichend wahrgenommen. Einzig die Grünen hatte eine Nähe zu den Erneuerbaren Energien, die aber auch verflachte. Das Geschäft der technischen und ideologischen Auseinandersetzung um die Wege der Erneuerbaren Energien ging
mehr und mehr an die Interessen und Lobbygruppen über.
Diese gründeten Denkfabriken, die als recht eigenständige Denkschulen operieren und sich als Experten und glaubhafte Verfechter eine Energiewende aufstellten. Sie begannen ein anderes Narrativ von Energiewende in die Welt zu setzen und es über intensive Medienarbeit zu verankern. Dieses andere Narrativ von Energiewende sollte die Überzeugungen der Solarfreunde vom dezentralen Charakter der Erneuerbaren Energien aufweichen und die Existenzberechtigung der fossilen Energiekonzerne wieder in den Köpfen der Menschen reaktivieren. Als wichtige und einflussreiche Organisationen konnten sich die Deutsche Energieagentur Dena und Agora Energiewende festsetzen. Die eine als staatlich-bürokratische Einrichtung, die andere eine Stiftung aus der Industrie. Heute hat sich das Narrativ dahingehend konkretisiert, dass anfangs leise, inzwischen mit großer Selbstverständlichkeit, eine zentrale Struktur des Energiewesens befürwortet, ja angemahnt wird.
Ohne Netze könne die Energiewende nicht zu einem positiven Ende geführt werden, lautet dieses Postulat. Wobei meist verschwiegen wird, dass mit Netzen weniger die Verteilnetze, sondern die Übertragungsnetze, die sogenannten Stromautobahnen, gemeint sind. Da auch diese Denkschule letztlich bei den eingefleischten Befürwortern einer Dezentralität nicht wirklich verfangen hat, folgte im vergangenen Jahr, nach Verabschiedung des Digitalisierungsgesetzes, eine neue Erzählung. Zentralität und Dezentralität sein ja gar kein Gegensatz, sondern könnten sich ergänzen. Das Wort vom Polyzentrismus machte die Runde, eine Begrifflichkeit, die bereits im früheren Ostblock, in der Zeit nach Stalins Tod, eine unrühmliche Rolle gespielt hatte: polyzentristisch war der „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW), in dem einer, nämlich Moskau, das Sagen hatte und die anderen nach der sowjetischen Pfeife tanzen mussten.
Abgesehen davon, dass solch unglückliche Begriffe schnell wieder in der Versenkung verschwanden, blieb der propagandistische Kern der Sache erhalten. Die „Digitalisierung der Energiewende“ biete eine Lösung für die Probleme der Vermarktung der vielen kleinen und mittleren Anlagen aus der Bürgerenergie. Mittlerweile sind die Betreiber von PV-Neuanlagen mit einer Leistung von über 100 kW Peak gesetzlich verpflichtet, den nicht verbrauchten Strom selbst zu vermarkten. Deren Betreiber seien damit vielfach überfordert, oder wie ist eine Veröffentlichung formulierte, hätten vielfach eine Scheu vor dem Handelsgeschehen an der Börse. Ein zwischengeschalteter Vermarkter sei „einfach und risikolos“. Bereits 41 größere EEG-Vermarkter seien demnach am Markt tätig. Diese weiteren Akteure im Energiemarkt werden als „neue Säule“ im Ausbau der Erneuerbaren Energien angepriesen.
Hier tauchte einr neue Denkfabrik (Thinktank) namens „Stiftung neue Verantwortung“ (SNV) auf. Über SNV und seine industriellen Gründerväter kann und sollte man sich im Link am Ende dieses Textes informieren. Neu ist nicht nur der Akteur bzw. die Denkschule. Neu ist das Konzept der „Digitalisierung der Energiewende“. Gingen frühere Konzepte davon aus, dass große Player das Geschäft des Fluktuationsausgleich übernehmen (auch Flexibilitätspotenziale genannt) und zu ihrem Geschäftsmodell machen sollten, so wird dies inzwischen mit der Vermarktung verknüpft bzw. erweitert. Dieselben Konzerne - am weitesten scheint hier Eon zu sein - die Mithilfe großer Leistungselektronik den Fluktuationsausgleich betreiben wollen, verfügen mit ihren großen Datenbeständen, eben Big Data, den direktesten und wirkungsvollsten Zugang zu den Endkunden. Die SNV-Denkschule von der Energiewende sieht für die Ökostromproduzenten aus der Bürgerenergie nur noch eine Rolle: die des Subunternehmers. Dies wird allerdings nicht thematisiert, sondern schamhaft verschwiegen, um nicht den Widerstand der Bürgerenergie hervorzurufen. Es gehört zur Raffinesse dieser Denkschulen, dass sie nicht nur die gewünschte Entwicklung umdeuten, sondern auch die Konsequenzen, die sich daraus für Bürgerenergie ergeben würden, verharmlosen. Subunternehmer verfügen nicht nur über eine geringe Selbstständigkeit, sie sind im Gefüge eines großen Energiemonopolisten quasi weisungsgebunden und müssen sich auch den finanziellen Konditionen, die dieser ihnen vorgibt, beugen.
Selbst wenn es auf den ersten Blick attraktiv erscheinen mag, dass ein automatisierter Vermarkter den von der Bürgerenergie erzeugten Strom an den Mann bzw. die Frau bringt, bleibt die Frage, wer diesem Vermarkter untersteht bzw. zu wem er gehört. In diesem Narrativ von Energiewende wird für die Bürgerenergie letztlich keine aktive Rolle mehr möglich sein. Von einer Demokratisierung des Energiewesen kann bei diesem Modell keine Rede mehr sein. Es wäre die durchautomatisierte Wertschöpfungskette eines Energiesystems der alten Konzerne oder schlimmer, eines einzigen der alten. Für die ursprünglichen Produzenten des Stroms bliebe nicht nur der geringste Ertrag, sondern auch die unbedeutendste und machtloseste Rolle im Gesamtsystem. Als Beispiel sei hier die Firma Flixbus angeführt, die lediglich einen symbolischen Omnibus besitzt, aber eine Fahrzeugflotte von über 2.000 Bussen dirigiert und die 200 Subunternehmern die ihr gehören kontrolliert. Bürgerenergie als Subunternehmen der alten Energiemonopolisten, das geht aber gar nicht.
Klaus Oberzig
Stiftung Neue Verantwortung
Fabian Reetz, Die Energiewende braucht ein digitales Marktdesign