06.12.2024
Die Hurrikansaison 2024 im Atlantik, Betrachtungen und Reflexion
Eine Übersetzung von Mattias Hüttmann
Der renommierte Klimaforscher Michael E. Mann (u.a. Der Tollhauseffekt, Propagandaschlacht ums Klima, Moment der Entscheidung) hat Ende November, genau am 26.11.24, auf seinem Blog einen interessanten Text veröffentlicht. Er erschien im Original unter dem Titel „Reflections on the 2024 Atlantic Hurricane Season“. Mit Genehmigung des Autors haben wir diesen Text für Sie übersetzt.
Das bemerkenswerte an diesem Artikel sind neben den interessanten Einblicken in die eigentlich komplexe Klimawissenschaft, vor allem die Offenheit und selbstkritische Analyse seiner Arbeit. Auch wird deutlich, dass es keinen Anlass zur Entspannung gibt, wenn beunruhigende Klimaprognosen glücklicherweise nicht eintreffen. Eine Reflexion der eigenen Arbeit, in der seriösen Wissenschaft üblich, wirft oftmals neue Fragen auf und eröffnet neue Perspektiven. So lässt sich an diesem Beispiel wieder einmal sehr gut erkennen, wie schmal der Pfad zwischen Verharmlosung und Weltuntergangsstimmung bisweilen ist und dass die Wahrheit in der Regel zwischen diesen beiden Extremen liegt. Das ist sicherlich nichts Neues als solches, aber es umso wichtiger, sich dessen stets bewusst zu sein, das hilft gegen allzu schnell gefällte Urteile und Depression. Nicht das wir alle vom Licht der Aufklärung ins Dunkel der Desinformation abrutschen, wie es Prof. Stefan Rahmstorf erst kürzlich auf seinem KlimaLounge-Blog geschrieben hat. Wie Michael Mann so schön formulierte: „Don’t forget, once again, to emphasize that there is both urgency and agency. The climate crisis is very real. But it is not unsolvable.“
Zu dem Artikel:
»Jetzt, da die Hurrikansaison 2024 im Atlantik ihrem Ende entgegenzugehen scheint, ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, was sich ereignet hat und was wir daraus lernen können.
Im Großen und Ganzen war es eine intensive, zerstörerische und – leider – tödliche Sturmsaison, in der elf tropische Wirbelstürme Hurrikanstärke erreichten (nur in vier Jahren – 1969, 2005, 2010 und 2020 – waren es mehr). Fünf der elf Stürme erreichten das amerikanische Festland, zwei davon – Helene und Milton – waren schwere Hurrikane. Auffällig war die außerordentlich schnelle Intensitätssteigerung mehrerer Stürme, darunter Beryl, der sich in weniger als 24 Stunden von einem tropischen Sturm zu einem Hurrikan entwickelte, Helene, der von einem schwachen tropischen Sturm zu einem schweren Hurrikan der Kategorie 4 mutierte und somit zum stärksten Sturm, der jemals in der Region „Big Bend“ in Florida auf Land traf wurde. Dann gab es noch Milton, der von der Kategorie 1 in weniger als einem Tag zu einem 300 km/h schnellen Monstersturm der Kategorie 5 aufstieg. Am bemerkenswertesten war jedoch der Hurrikan Oscar, den das Nationale Hurrikan-Zentrum am 19. Oktober um 8 Uhr Ortszeit der Dominikanischen Republik als kleine tropische Wetterstörung klassifiziert hatte, der jedoch nur fünf Stunden später zu einem Hurrikan heraufgestuft wurde. Nachdem Oscar im Osten Kubas auf Land getroffen war, hinterließ er eine Spur der Verwüstung, die ein halbes Dutzend Todesopfer forderte. Das sollte uns jedoch nicht überraschen, denn diese Entwicklung ist Teil eines stetigen Trends hin zu einer raschen Intensivierung und wurde bereits vor einigen Jahren vom führenden Hurrikanforscher Kerry Emanuel vom MIT als Folge der Erwärmung der Ozeane vorhergesagt.
ie zunehmende Intensität und das zerstörerische Potenzial dieser Stürme sind auch auf die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung zurückzuführen. Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass die vom Menschen hervorgerufene Erderwärmung die Heftigkeit der Stürme im Jahr 2024 erheblich verstärkte. Sie kam zu dem Schluss, dass die beiden Kategorie-5-Stürme – Beryl und Milton – ohne die menschengemachte globale Erwärmung wahrscheinlich nicht dieses Ausmaß erreicht hätten. Tatsächlich hätte Milton fast die Schwelle von 308 km/h erreicht, was laut einer aktuellen Studie einer völlig neuen „Kategorie 6“ von Wirbelstürmen entspräche, die der Ära beispielloser Ozeanerwärmung zu verdanken ist. Eine andere Studie schätzt, dass die tödlichen Überschwemmungen im Südosten der USA durch den Hurrikan Helene durch die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung um 50 % zugenommen haben.
Die Hurrikansaison 2024 war in vielerlei Hinsicht beispiellos, nicht zuletzt, weil sie durch den Klimawandel eindeutig noch verschärft wurde. Es gibt jedoch ein Puzzleteil, das nicht ganz ins Bild passt. Denn auch, wenn es eine aktive Saison war, gemessen an der Anzahl der tropischen Wirbelstürme (d. h. der Anzahl der mit Namen versehenen Stürme). So waren es nominell „nur“ 18 Stürme (diese Zahl könnte noch steigen, siehe weiter unten). Damit gehört das Jahr 2024 zu den elf stürmischsten Jahren seit 1851. Und trotzdem war diese Saison nicht so aktiv, wie man hätte erwarten können.
Unser Expertenteam war eines von mehreren, die eine äußerst heftige Hurrikansaison mit 25 bis 30 registrierten Stürmen voraussagten. Diese Prognosen beruhten auf den zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Klimaverhältnissen, wie einer rekordverdächtigen Erwärmung des tropischen Atlantiks und dem Übergang von El Niño zu La Niña. Beide Faktoren begünstigen eine intensive Wirbelsturmsaison im Atlantik, da sie mit einer thermodynamisch günstigen Umgebung mit geringer Verwirbelung einhergehen, die die Entstehung tropischer Stürme begünstigt. In den vergangenen Jahren, in denen diese Faktoren zusammenkamen, 2005 und 2020, kam es zu einer beispiellosen Anzahl registrierter Stürme (28 bzw. 30). Da die entscheidende Entwicklungsregion (Main Development Region, MDR) für atlantische tropische Wirbelstürme zu Beginn der gegenwärtigen Hurrikansaison rekordverdächtig warm war, prognostizierte unser statistisches Modell zwischen 27 und 39 Stürme, wobei der wahrscheinlichste Schätzwert bei 33 registrierten Stürmen lag.
Diese Prognose setzte jedoch die Entwicklung eines moderaten La Niña im Herbst der nördlichen Hemisphäre voraus, wie er zu diesem Zeitpunkt in den Modellen vorhergesagt wurde. Tatsächlich kam es anders, aktuelle Schätzungen weisen gar neutrale Werte des „Nino3.4“-Index zum El Niño-Phänomen Ende November aus. Im alternativen Szenario eines neutralen tropischen Pazifiks erwarteten wir eine etwas geringere Gesamtzahl von 25 bis 36 Stürmen, schätzungsweise sogar nur 30,5. Die tatsächliche Gesamtzahl von 18 – zum offiziellen Ende der Wirbelsturmsaison – liegt nun deutlich unter dem vorhergesagten Bereich, auch wenn die endgültige Gesamtzahl immer noch 19 oder sogar 20 betragen könnte. Denn 2005 hielt so mancher Sturm auch noch bis in den Januar des Folgejahres an. Abgesehen davon ist die inoffizielle Gesamtzahl der Stürme in dieser Hurrikansaison mit einer gewissen Subjektivität behaftet. Denn hätte das Nationale Hurrikanzentrum den „potenziellen Hurrikan Nr. 8“ auch als einen registrierten Sturm bezeichnet, läge die Gesamtzahl bereits bei 19. Auch wurden schon Stürme wie die potentielle Nummer 8 noch nachträglich in die Saisonstatistik aufgenommen, wodurch sich die Gesamtzahl erhöhte. Das könnte auch dieses Mal der Fall sein. Aber auch so liegt die aktuelle Zahl der Stürme mit 19 noch rund zwei Standardfehler unter unserer mittleren Prognose, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausreicht, um unsere Prognose als „fehlerhaft“ zu bezeichnen.
Nun stellt sich natürlich die Frage, was schiefgelaufen sein könnte. Vermutlich sind hier mehrere Störfaktoren am Werk: Die Hurrikansaison zeigte sich im Juli und August ungewöhnlich ruhig, obwohl die jahreszeitlichen Aktivitäten normalerweise zu dieser Zeit an Fahrt aufnehmen. Im September wurde es dagegen deutlich lebhafter. So gab es von September bis November fast genauso viele registrierte Stürme (13 bzw. 14, wenn man den „potenziellen Wirbelsturm 8“ mit einbezieht) wie in den bisher aktivsten Jahren 2005 und 2020 (mit jeweils 16 registrierten Stürmen).
Es gibt folglich keine nennenswerten Abweichungen in der zweiten Saisonhälfte, sie war im Grunde so aktiv wie erwartet. Unklar ist jedoch, warum es im Juli und August so ruhig war, obwohl die saisonalen Großwetterlagen eindeutig günstig waren. Genau hier kommt es zu Komplikationen durch Schwankungen innerhalb der Jahreszeiten. Von besonderer Bedeutung ist dabei die sogenannte Madden-Julian-Oszillation oder einfach „MJO“, wie sie in Fachkreisen genannt wird. Die MJO ist eine etwa 40 bis 50 Tage andauernde Schwankung in der tropischen atmosphärischen Zirkulation, welche die Lage der Konvektion beeinflusst, die sich im Laufe eines einzigen 40–50-Tage-Zyklus nach Osten und Westen verschiebt. Fällt das Konvektionszentrum mit dem tropischen Atlantik zusammen, sind die Bedingungen für die Bildung tropischer Wirbelstürme günstiger. Umgekehrt werden die Bedingungen ungünstig, sobald sich das Konvektionszentrum z. B. in den Pazifik verlagert. In diesem Jahr fiel die ungünstige Phase des MJO ungefähr mit dem Höhepunkt der Hurrikansaison zusammen, wodurch die Bildung tropischer Wirbelstürme genau zu dem Zeitpunkt gehemmt wurde, zu dem sie normalerweise am häufigsten auftreten würde. Zweitens sorgte trockene Saharaluft im Juli und August ebenfalls für ungünstige Bedingungen für die Bildung tropischer Wirbelstürme. Im Endeffekt führten also weniger die klimatischen Bedingungen als vielmehr die Launen des Wetters und die Schwankungen innerhalb der Jahreszeit dazu, dass die Sturmsaison 2024 weniger heftig ausfiel als sonst. Angesichts der verheerenden Folgen der Stürme, die sich dennoch gebildet haben, sollten wir dafür dankbar sein.
In diesem Zusammenhang gibt es noch ein weiteres bemerkenswertes Detail. Dazu erstellte unser Team eine alternative Prognose, bei der die tropische Meeresoberflächentemperatur (Sea Surface Temperature, SST) in der Hauptentwicklungsregion (MDR) durch die von uns als „relative SST“ bezeichnete Temperatur ersetzt wurde, die als Differenz zwischen der MDR-SST und der durchschnittlichen SST in den gesamten Tropen bestimmt wird. Denn einige Forschende sind der Meinung, dass dies ein besserer Indikator für das Auftreten von atlantischen Wirbelstürmen sein könnte. Während unsere vorherigen Analysen ergeben haben, dass dieses alternative Modell weniger genaue Vorhersagen liefert, ist es bemerkenswert, dass es in diesem Jahr eine viel genauere Vorhersage von 19,9 +/- 4,5 registrierten Stürmen lieferte, die bemerkenswert nahe an der tatsächlichen Gesamtzahl lag.
Es gibt also Einiges, worüber man nachdenken kann, wenn man auf diese beispiellose und ungewöhnliche Hurrikansaison im Atlantik zurückblickt. Was unser statistisches Modell zum Auftreten von Hurrikanen im Atlantik betrifft, so hat es bisher im Allgemeinen zu den genauesten Vorhersagen geführt. In Jahren, in denen es „daneben lag“ (d. h. die beobachtete Anzahl außerhalb des Unsicherheitsbereichs der Vorhersage lag), hat es in der Regel zu wenig Stürme vorhergesagt. Zum Beispiel hatten unsere Prognosen 2020, verglichen mit allen anderen Prognosen, die stürmischste Saison vorhergesagt (mit bis zu 24 namentlich benannten Stürmen), was auf eine ähnliche Kombination günstiger Faktoren zurückzuführen ist, die zu Beginn dieser Saison beobachtet wurden (d. h. sehr warme SST im tropischen Atlantik und ein Übergang zu La Niña-Bedingungen). Unsere Prognose fiel jedoch zu niedrig aus – tatsächlich wurden die bis dato höchste Anzahl von 30 registrierten Stürmen verzeichnet. Dies ist das erste Jahr, in dem unsere Prognose die festgestellte Anzahl von Stürmen deutlich überschritten hat.
Man könnte dies leichtfertig als einmaligen Zufall abtun, d. h. das Zusammentreffen ungewöhnlicher Wetterbedingungen auf dem Höhepunkt der Sturmsaison, als einen unglücklicher Verlauf von Ereignissen bezeichnen, was natürlich auch denkbar wäre. Beunruhigender wäre es jedoch, wenn sich das Klimasystem nicht mehr so verhalten würde wie früher und einige der alten Regeln und Zusammenhänge nicht mehr gelten würden. Um zu vermeiden, dass dies wie ein Plädoyer der Besonderen Art klingt (vielleicht ist es das aber auch), sollte erwähnt werden, dass angesehene Kollegen von mir (die Klimaforscher Gavin Schmidt und Zeke Hausfather) genau dies in einem kürzlich in der New York Times erschienenen Gastkommentar mit dem Titel "Wir untersuchen den Klimawandel. Wir können nicht erklären, was wir sehen“ (“We Study Climate Change. We Can't Explain What We're Seeing") beschrieben. Unter anderem vertreten sie darin die Ansicht, dass die Entwicklung des jüngsten El-Niño-Ereignisses einfach nicht dem Muster früherer El-Niño-Ereignisse entspricht. Möglicherweise, so die Forschenden, verändert der Klimawandel das Verhalten von El Niño. Und wenn dies der Fall ist, könnte sich auch der Einfluss des Phänomens auf andere Eigenschaften des Ozean-Atmosphäre-Systems ändern, einschließlich seines Einflusses auf die saisonale Hurrikanaktivität.
Das ist natürlich eine äußerst beunruhigende Vorstellung. Denn obwohl die Auswirkungen in diesem Fall geringer ausfielen als erwartet, könnten im Zusammenhang mit dem Treibhauseffekt noch weitaus unangenehmere Überraschungen auf uns warten. Kurz gesagt, ist es unklug, an einem System herumzubasteln, das man nicht vollständig versteht. Vor allem, wenn unsere gesamte Zivilisation auf dem Spiel steht.«
Buchtipp
Moment der Entscheidung
Wie wir mit Lehren aus der Erdgeschichte die Klimakrise überleben können
Im Original: Our Fragile Moment (von Michael E. Mann)
In der deutschen Übersetzung von Matthias Hüttmann und Tatiana Abarzúa. Mit einem Vorwort des Meteorologen Özden Terli.
ISBN 978-3-98726-069-8
1. Auflage 2024
384 Seiten, D: 34,00 €
Herausgeber: DGS, Landesverband Franken e.V.
oekom-verlag, München
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oder (gerne im lokalen Buchhandel) kaufen.
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