06.03.2020
Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem
Studien zu einem künftigen, möglichst klimaneutralen Energiesystem gibt es viele und in unterschiedlichen Qualitäten – von gut bis grottenschlecht. Und es wird in naher Zukunft noch weitere geben, um so mehr sich das Zeitfenster für eine Lösung der Klimakrise schließt und die untätige Unfähigkeit der Merkelschen Bundesregierungen offenbar wird. Besondere Beachtung inmitten der Studienvielfalt ist aber stets geboten, wenn sich die Spezialisten des Freiburger Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE mit diesem Thema beschäftigen, die ja schon auf einige eigene Energiesystem-Modellierungen zurück greifen können.
Im Februar ist nun die neueste Studie aus dem Hause ISE unter dem Titel „Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem – Die deutsche Energiewende im Kontext gesellschaftlicher Verhaltensweisen“ erschienen. Auf 66 Seiten – ergänzt durch einen 15seitigen Anhang mit Daten zum Strom-, Wärme- und Verkehrs-System – skizziert das Papier verschiedene Pfade zur Klimaneutralität, beschreibt den jeweiligen Energiebedarf sowie die Kosten, und nimmt beim Umbau des Energiesystems auch die verschiedenen Entwicklungen gesellschaftlicher Verhaltensweisen und Einstellungen in den Blick. Zielpunkt der Pfade ist ein weitgehend, d.h. zu 95% klimaneutrales Energiesystem für das Jahr 2050, wie es im regierungsamtlichen Klimaschutzplan 2050, der deutschen Klimaschutzlangfriststrategie, angestrebt wird. Nun mag man dieses Ziel angesichts der dramatischen klimatischen Entwicklungen für völlig ungenügend oder gar wahnhaft halten, und man kann die Merkelsche „Klimaschutzlangfriststrategie“ durchaus als Synonym für „Erst mal tun wir gar nichts“ sehen, nur sollte man deshalb nicht die Freiburger der politischen Feigheit zeihen, oder gar glauben, sie könnten es nicht besser. Der Bezug auf den nationalen Klimaschutzplan 2050 lässt vielmehr geschickt die üblichen politisch-taktischen Ausweichmanöver unserer Regierung wie „Das ist nicht unsere Vorstellung, dazu haben wir uns nie verpflichtet, das ist ja gar nicht machbar ...“ frontal gegen die Wand laufen. Denn, und das ist ein Ergebnis der Studie, die Reduktion der energiebedingten CO₂-Emissionen zwischen 95 und 100 Prozent bis 2050 im Sinne des Pariser Vertrags ist auf verschiedenen Pfaden – wenngleich unterschiedlich leicht – machbar. Man muss es nur wollen!
Für seine Berechnungen zur Simulation und Optimierung der verschiedenen Szenarien bedient sich das ISE des hauseigenen und immer wieder aktualisierten Regenerative Energien Modells (REMod). Danach wird das Energiesystem nach Energiequellen (von Sonne bis Kohle), Energieumwandlungs-Techniken (von PV bis AKW), Speicherungs-Systemen (von Kfz-Batterie bis Pumpspeicher-Kraftwerk) und Verbrauchssektoren (Verkehr, Strom, Prozesswärme und Gebäudewärme) ausdifferenziert, und stundengenau modelliert. Daraus erfolgt die Konstruktion von vier konsistenten Szenarien (S. 20 f.):
Das erste Szenario „Referenz“ eliminiert alle gesellschaftlichen Verhaltensweisen. Es ist ein rein rechnerisches Szenario, dass sich an der kostenoptimalen Transformation des Energiesystems orientiert und als Vergleichsmodell für die anderen Szenarien dient, wobei die zu grundeliegenden Annahmen wie u.a. das Ausbaupotential von PV-Anlagen mit 530 GW oder eine Gebäude-Sanierungsrate von 1 bis 3% im Text aufgeführt werden.
Das zweite Szenario „Beharrung“ geht von einer Nichtakzeptanz der Energiewende im privaten/häuslichen Bereich aus, d.h. Fossil-Fahrzeuge überwiegen im motorisierten Individualverkehr und die Gaskessel bei den Neuinstallationen für die Gebäudewärme.
Das dritte Szenario „Inakzeptanz“ beschreibt eine breite gesellschaftlich-politische Ablehnung der Energiewende, die größere, für die Transformation des Energiesystems notwendige Infrastrukturprojekte behindert. Das führt zu einer Einschränkung der Windenergie – sowohl Onshore als auch Offshore – sowie zu einem starken Ausbau von PV-Anlagen auf 800 GW, um die Pariser Klimaziele einhalten zu können. Der Straßengüterverkehr bleibt in diesem Szenario überwiegend fossil.
Beim vierten Szenario „Suffizienz“ kommt es zu breiten Verhaltensänderungen/Wertewandeln, die bei den Nutzern zu einer deutlichen Reduktion des Energieverbrauchs führen. Der motorisierte Individualverkehr geht um ein Drittel bis zur Hälfte zurück, ebenso wie der Stromverbrauch. Die Sanierungsrate im Wohnungsbau (→ Gebäudewärme) steigt auf 3 %.
Dazu kommen zwei Sonderszenarien, die nicht dem Klimaplan der Bundesregierung entsprechen: Das Szenario Referenz100, basierend auf dem Szenario Referenz, bei dem eine 100prozentige Reduktion der energiebedingten CO2-Emissionen bis 2050 statt 95% als Randbedingung anvisiert ist, und das Szenario Suffizienz2035, bei dem davon ausgegangen wird, dass bereits im Jahr 2035 eine vollständige Reduktion der energiebedingten CO2-Emissionen erreicht werden muss.
Neben den vielen Einzelergebnissen (S. 22 ff.) sind besonders die unterschiedlichen Kosten (S. 54 ff.) der Pfade auf dem Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem interessant. Gegenüber einem Business-as-usual(BAU)-Szenario, das einfach den aktuellen Stand unseres Energiesystems bis 2050 fortschreibt („Erst mal tun wir gar nichts“), fallen bei den verschiedenen Szenarien folgende Mehraufwendungen an: Szenario Referenz ca. 1.580 Mrd. €, Szenario Beharrung 2.330 Mrd. €, Szenario Inakzeptanz 1.590 Mrd. €, Szenario Suffizienz 440 Mrd. €. Dazu kommen die beiden Sonderszenarien: das Szenario Referenz100 mit 2.100 Mrd. € und das Szenario Suffizienz2035 mit 3.330 Mrd. €. Damit ist das Szenario Suffizienz mit seinen 440 Mrd. € (zum Vergleich: der Bundeshaushalt 2020 beträgt 362 Mrd. €) der günstigste Pfad, der für die nächsten 30 Jahre nur einen jährlichen Finanzierungsaufwand von 14 bis 15 Mrd. € erfordert. Damit bestätigt das Fraunhofer ISE nochmals, was viele Fachleute seit Jahren immer wieder anmahnen: je rechtzeitiger und konsequenter die Energiewende umgesetzt wird, desto billiger wird sie.
Fazit
Eine aufschlussreiche und hochinteressante Studie, die jeden Politiker, der nicht zur völligen Verblödung neigt, zum sofortigen Handeln veranlassen sollte. Aber auch die Bürger sind im Sinne der Suffizienz dazu aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten.
Götz Warnke