03.12.2021
Der PV-Zubau und das Paris-Abkommen
Eine Studienbetrachtung von Jörg Sutter
Man kann sich freuen und jubeln, weil die neue Koalition in Berlin den PV-Zubau in Zukunft deutlich erhöhen möchte. Ganze 100 % wurden draufgelegt, gegenüber den geplanten 100 Gigawatt (GW) Gesamtumsetzung sollen es nun 200 Gigawatt bis zum Jahr 2030 werden. Bei linearem Ausbau wäre das ein Zubau von 16 GW pro Jahr. Doch eine aktuelle Studie der Forschungsgruppe Solarspeichersysteme der HTW Berlin hat verschiedene Ausbaupfade modelliert und kommt zu dem Schluss: Ein höherer Ausbau ist gut, reicht aber zur Einhaltung der Paris-Ziele bei weitem noch nicht aus. Die Studie ist hier zu finden.
Drei Szenarien betrachtet
Wie so oft ist der Blick in die Zukunft ein wenig wie der Blick in eine Glaskugel. Die Wissenschaft ist hier aber durchaus seriöser, indem schlicht verschiedene Szenarien, also unterschiedliche Möglichkeiten der Zukunftsentwicklung, betrachtet werden. Jeder untersuchte Zukunftspfad führt zu einem bestimmten Ergebnis in der Zukunft, aus den verschiedenen Ergebnissen kann dann zurückgeschlossen werden, welcher Weg gegangen werden muss, um ein bestimmtes Resultat zu erreichen.
In diesem Fall wurden von der HTW drei Szenarien untersucht, die den Weg zu einer fossilfreien Zukunft beschrieben. Die HTW geht vom Budgetansatz anteilig für die Länder aus, damit steht Deutschland ein Restbudget an CO2 zu. Für die Einhaltung des Pariser 1,5-Grad-Zieles ist eine Klimaneutralität bis zum Jahr 2030 notwendig, das CO2-Budget dann erschöpft. Sollen 1,7 Grad erreicht werden, würde es genügen bis zum Jahr 2035 die Treibhausgasemissionen auf Null zu reduzieren. Die Bundesregierung will jedoch erst 2045 klimaneutral sein, daran wird schon sichtbar, dass das nicht reichen kann. Die drei betrachteten Wege unterscheiden sich deshalb im Detail bei dem Ehrgeiz zu einer schnelleren oder auch langsameren Umsetzung der Energiewende. Die Photovoltaik wurde schließlich als „Auffüller“ modelliert, das heißt alle anderen Erzeugungen wurden zuerst modelliert, die PV muss dann jeweils den „Restbedarf“ übernehmen. Auf diese Art wurde der notwendige PV-Bedarf ermittelt.
Ansatz: fast-all-electric
Allein aus Effizienzgründen rechnet die HTW einen nahezu vollständigen Umstieg im Verkehrs- und Heizungsbereich auf Elektroautos und Wärmepumpen durch. Jeder PKW-Verbrennungsmotor, der ja nur einen Wirkungsgrad von rund 16% aufweist, würde noch weit größere Anstrengungen und Energiemengen bedürfen. In Bereichen, die nicht oder nur schwer elektrifizierbar sind (und nur dort..) wird mit dem Einsatz von grünem Wasserstoff kalkuliert.
Grüner H2-Import
Um vollständig erneuerbar zu werden, rechnet die Studie mit einem Import von grünem Wasserstoff in der Höhe von 60% des H2-Bedarfs. Dessen Gesamtproduktion wäre – egal welches Szenario – im Inland nicht möglich: Die Strommenge, die dafür in 2035 notwendig wäre, liegt höher als der gesamte Stromverbrauch der Nation in diesem Jahr. Wasserstoff braucht zur Herstellung viel Energie und ist daher der „Champagner der Energiewende“, wie Prof. Claudia Kemfert den Energieträger vor einiger Zeit markant betitelt hat. Daher die Beschränkung auf wirklich wichtige Bereiche und die Perspektive, dass es ohne Import nicht gehen wird.
Ergebnis: Wir brauchen (deutlich) mehr
Das ernüchternde Fazit der Studie: Zur Erreichung der Pariser Klimaziele brauchen wir in Deutschland bis 2035 mindestens 590 Gigawatt PV-Leistung, nicht 200, wie es sich die neue Regierung vorgenommen hat. Es muss dabei möglichst bald ein Jahreszubau von 45 GW pro Jahr erreicht werden. Und wie immer ist das ein Nettowert, also muss brutto noch ein wenig mehr neu gebaut werden, denn es werden auch jedes Jahr alte Anlagen abgebaut.
„Mit dem Koalitionsvertrag versäumt die neue Bundesregierung den Ausbau der Windkraft und Solarenergie auf das Pariser Klimaschutzabkommen auszurichten“, kritisieren die Wissenschaftler der HTW. Auf Twitter ergänzt Volker Quaschning einen gewichtigen Vorteil eines hohen Ausbaus: „Dafür schaffen wir dann 250.000 zukunftsfähige Jobs“.
Die aktuelle Marktentwicklung
Die Bundesnetzagentur hat in diesen Tagen die Ergebnisse der Oktoberauktion für PV-Freiflächen bekannt gegeben: Demnach wurde nur rund die Hälfte der eingereichten Angebote auch mit einem Zuschlag versehen: 986 MW wurden insgesamt eingereicht, nur 512 MW in 133 Projekten wurden bewilligt. Man darf also spekulieren: Gäbe es die Begrenzung der Ausschreibemenge nicht, hätte (zumindest zu diesem Termin) das Doppelte an Anlagenleistung in die Realisierungsphase geschoben werden können. Und weiter spekuliert: Wäre bei den Privatanlagen nicht derzeit ein Flaschenhals der Materialversorgung und ein weiterer in der Handwerkerkapazität, hätte auch hier eine deutlich höhere Menge als die angemeldeten 412 MW für Anlagen mit fester Einspeisevergütung umgesetzt werden können. Wenn man dann noch die geplante Solarpflicht fürs Gewerbe und die „Regel“ für neue Wohngebäude in Betracht zieht, sollte eine Steigerung über eine Verdoppelung der heutigen Zahlen hinaus – also eher in Richtung der Ergebnisse der HTW – ja eigentlich kein Problem der Nachfrageseite sein.<
Stolperstein für die Ampel
Es könnte sich jedoch für die neue Ampel als Stolperstein herausstellen, dass dort „nur“ mit 200 GW gerechnet wird, auch darauf weist Volker Quaschning ganz klar hin: Nachdem das Verfassungsgericht die Anpassung des Klimaschutzgesetzes verfügt hatte, wurde dieses auf Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 angepasst. Doch dann auch für die CO2-Emission das Zieldatum 2045 zu setzen, ist Unsinn. Warum? Zum einen, weil auch der Ausstoß andere Klimagase an Budget „nagt“, zum anderen, weil die Jahre 2021 und 2022 nach Corona und mit dem Atomausstieg schon einmal nicht für größere Reduzierungen zur Verfügung stehen und damit das Budget schon wieder weiter schmilzt. Die Frage darf gestellt werden, ob nicht das Verfassungsgericht bald wieder darauf angerufen wird und dann die Umsetzung gemäß den Zielvorgaben des Klimaschutzgesetzes einfordern wird.
Anpassung der Werte?
Dass sich die Koalition aufgrund der aktuellen Studie die Ausbauzahlen nochmals kurzfristig verändert, darf realistisch ausgeschlossen werden. Wichtig ist jedoch, dass das Paris-Ziel trotzdem nicht aus den Augen verloren wird, eine Verschärfung zu einem baldmöglichsten Zeitpunkt ist unerlässlich. Aber am wichtigsten ist es jetzt, dass der Zug mit dem Ziel Klimaschutz erst einmal ins Rollen kommt und losfährt. Er muss dann eben möglichst schnell nach Verlassen des Bahnhofs beschleunigt werden. Und auch Friday4future haben schon angekündigt, dass sie mit dieser Realität weiter für die Einhaltung des Paris-Abkommens streiten und streiken werden: “dafür werden wir weiter laut sein“. Und auch die Studie mahnt in ihrem letzten Satz deutlich: „Es gibt keine weitere Zeit mehr zu verlieren“.