03.04.2020
Ein „gut gemeinter“ New Deal für 100% Erneuerbare
Wie immer in Krisenzeiten gibt es auch heutzutage eine geradezu anschwellende Welle von Ideen und Konzepten, was man nun gaaanz, gaaanz dringend machen könnte, müsste, sollte. Viele dieser Ideen sollen unterschiedlichen Interessengruppen offensichtlich nur mehr oder minder dazu dienen, sich „die eigenen Taschen voll“ zu machen – von dem Wunsch großer Kaufhausketten oder Marken der Bekleidungswirtschaft nach einem Aussetzen der Mieten für ihre Läden einerseits bis zum „Bedingungslosen Grundeinkommen“ andererseits. Doch auch in solchen Zeiten gibt es immer wieder Konzepte, die sich nicht am tagespolitischen Opportunismus orientieren, sondern analytisch grundsätzliche und langfristige Ziele verfolgen. Dies ist zweifellos beim Diskussionspapier „New Deal für das Erneuerbare Energiesystem. Wie die Energiewirtschaft entfesselt werden kann und so 100 % Erneuerbare Energien möglich werden.“ der Berliner Reiner-Lemoine-Stiftung (RLS) der Fall, das im Februar diesen Jahres, und damit vor der Hochphase der Corona-Krise veröffentlicht wurde.
Das Papier geht von den Pariser Klimazielen (1,5°C) und dem daraus folgenden, noch verbleibenden CO2-Budget aus – sowohl global (420 Gigatonnen CO2) als auch auf Deutschland bezogen (7,3 Gigatonnen/Gt). Da Deutschland 0,8 Gt CO2 jährlich emittiert – wobei 85% der Treibhausgase dem Energiesektor zuzurechnen sind – , verbleiben uns gerade einmal noch entscheidende 10 Jahre, um unser Energiesystem CO2-frei zu stellen. Doch der Weg dahin wird nach Meinung der RLS dadurch erschwert, dass das gesellschaftliche Energiewende-Projekt an Zugkraft verloren habe, und dass man immer noch versuche, die neuen Technologien in das alte, fossile Energiesystem zu integrieren. Daher ist es nach Meinung des Diskussionspapiers Zeit für einen New Deal für ein modernes Erneuerbares Energiesystem, das sich in seinen Kapazitäten um 2035 etwa so darstellt: 500 Gigawatt (GW) PV, 200 GW Wind Onshore, 100 GW Wind Offshore, und einen Endenergiebedarf von 1.650 Terawattstunden (TWh) pro Jahr. (S. 6) Das ist zwar deutlich mehr, als die in Quaschnings Sektorenkopplungsstudie angenommenen 1.320 TWh für das Jahr 2040, oder die 1.450 TWh aus dem Szenario „Grünes Gas“ der Sektorenkopplungsstudie der Berliner enervis energy advisors GmbH (S.21), aber auch durch Effizienzmaßnahmen deutlich weniger als die heutigen deutschen 2.500 Twh/a.
Als Eckpunkte für ein Erneuerbares Energiesystem im Jahr 2035 formulieren die Analysten der RLS 12 Punkte (12. New Deal: Aufbrechen des fossilen Energiemarktes durch eine mutige Energiepolitik, S. 68), von denen die ersten elf zu fünf Themengruppen zusammengefasst werden:
I. Prämissen
1. Paradigmenwechsel: fundamentale Änderung der Energieversorgung – technisch, ökonomisch, gesellschaftlich etc.
2. Elektrifizierung: All-Electric-System inklusive Wärme- und Mobilitäts-Sektoren
3. Teilhabe: Lokale Wertschöpfung, Bürgerbeteiligung auch an Investitionen
II. Versorgung – vernetzte Energieversorgung vor Ort
4. Vor-Ort-Versorgung: Rund 30% des Energiebedarfs werden künftig lokal erzeugt, gespeichert, genutzt. Diese „Zellen“ müssen ins Gesamtsystem eingebunden werden.
5. Vernetzte Zellen: Bis zum Netzanschlusspunkt haben die semi-autarken Zellen alle Freiheiten; danach wird systemdienliches Verhalten durch Anreize gefördert.
III. Netze – Transparenz, Subsidiarität und dezentrale Frequenzhaltung
6. Engpassbewirtschaftung: Statt Netzengpass-Vermeidung durch Ausbau jetzt Bewirtschaftung der Engpässe mit Hilfe der o.a. Versorgungszellen
7. Systemdienstleistungen: EE-Anlagen und Energiespeicher übernehmen dezentral die Frequenz- und Spannungshaltung etc. und erzielen so Versorgungssicherheit und Resilienz
IV. Handel – flexible und regionalisierte Verknüpfung von Erzeugung und Verbrauch
8. Smart Markets: Für Stromlieferung, aber auch für neue Handelsgüter wie verschiedenste Erzeugungs- und Flexibilitätsoptionen
9. Energiespeicher: Übernehmen lokal und überregional in den Zellen und auf Handelsmärkten Flexibilitäts- und Stabilisierungs-Funktionen durch kurzfristige sowie saisonale Energiespeicherung
V. Erzeugung – Klimaneutrale und verbrauchsnahe Kapazitäten zur Stromerzeugung
10. Kapazitätsmärkte: EE-Kapazitätsmärkte mit Energiebreitstellungs-Grundpreisen sowie CO2-Abgaben auf den Primärenergieverbrauch“ (S.8)
11. Staatliche Steuerung: Ausbau der Erzeugungskapazitäten durch zentralisierte Planungsprozesse
Den Abschluss bilden eine Seite offene Fragen (S. 69), die sich meist auf Präzisierungen des Gesagten beziehen und kaum neue Anstöße liefern, sowie ein fünfseitiges Quellenverzeichnis.
Kritik
Nun ist ein Diskussionspapier keine Studie, weshalb hier weniger strenge Maßstäbe anzulegen sind. Dennoch gibt das Papier genügend Anhaltspunkte für Anmerkungen und Kritik:
1. Elektrifizierung: Das RLS-Papier geht von einem All-Electric-Energiesystem aus, das 97% des Endenergieverbrauchs elektrisch und nur einen Rest von 3% anderweitig deckt. (S. 23) Dieser Rest besteht aus rund 50 TWh/a Wärme aus Solarthermie (ST) und Bioenergie. (S. 21) Das übersieht zum einen, dass ST eine doppelt so hohe Flächeneffizienzwie die Photovoltaik hat, und damit die höchste aller Erneuerbaren Energien (EE) – beim Flächenbedarf der EE kein unwesentlicher Faktor und eine deutliche Aufforderung zum Ausbau dieser Energiequelle. Zum anderen wird die Bioenergie, selbst wenn man die Vermaisung reduziert, schon wegen der zunehmenden, klimapolitisch notwendigen Nutzung der Methan-Emissionen aus Kläranlagen, Deponien etc. (Eh-da-Gase), uns als Energiequelle im Wärmemarkt erhalten bleiben. Schließlich liegt auch bei der nur einmal erwähnten Geothermie (S. 23) das überwiegende Potential im Wärmebereich, wobei hierdurch sogar anderweitig erneuerbar gar nicht nutzbare „Flächen“ erschlossen werden. Beim Wärmethema macht man es sich also hier deutlich zu einfach.
2. Teilhabe: In der Tat ermöglicht das EE-System eine umfangreichere Teilhabe als bisher – ob als Energie-Genossenschaftler oder als privater Prosumer. Doch es wird dann höchst problematisch, wenn die RLS hierzu schreibt: „Solaranlagen oder Windkraftwerke können zudem nur dann in erforderlicher Anzahl auf den Dächern der Menschen und an die Horizonte der Dörfer gebaut werden, wenn dafür die erforderliche Akzeptanz vorhanden ist.“
Die EU-Richtlinie 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen stellt in § 21 („Eigenversorger im Bereich erneuerbare Elektrizität“) das Recht der Bürger fest, als Eigenversorger diskriminierungsfrei zu agieren. Auch wenn das immer noch nicht in deutsches Recht umgesetzt ist, so ist das im Prinzip nicht verhandelbar! Einschränkungen dieses Rechts können bei Kollisionen mit anderen Rechtsgütern vorgenommen werden, aber nicht von einer wie immer gearteten „Akzeptanz“ abhängen.
Zur Verdeutlichung stelle man sich vor, man würde das Recht auf frei Meinungsäußerung vom regierungsamtlichen Wohlgefallen, vom Placet gesellschaftlicher Organisationen oder von den neuesten Windungen der Political Correctness abhängig machen.
3. Effizienz: Dieser Begriff in allen seinen Spielarten kommt in dem Papier häufig vor, dagegen der Begriff „Einsparen“ nur zwei Mal und „Suffizienz“ kein Mal. Effizienz ist häufig ein Narrativ, Negatives etwas weniger schlecht („effizienter“) zu machen, und es daher akzeptabel aussehen zu lassen. Die EU ist z.B. beim Plastik einen anderen Weg gegangen, und verbietet ab 2021 schlicht alles Einmalplastik – keine Effizienzdiskussionen um Material-sparsamere, dünnwandigere Plastikstrohhalme etc., sondern einfach weg! Ähnlich ließe sich auch mit vielen Elektro-Kleingeräten verfahren – vom elektrischen Brieföffner, über den elektrischen Fensterreiniger bis zum Toaster. Das spart nicht nur die Energie für den Betrieb, sondern auch die Energie für die Herstellung. Doch dazu muss man diesen Problemkreis erst einmal in den Blick nehmen.
4. Produktionsumstellung: Für ein künftiges Energiesystem spielen auch die Produktionsverfahren und die Rohstoffbasis eine entscheidende Rolle. Das beginnt mit einer verstärkten Umstellung der Industrie wo immer möglich auf Niedertemperatur-Verfahren, den Wechsel zu nachhaltigen Materialien/Rohstoffen, sowie die Vermeidung von Endcycling, d.h. dass abgeschiedenes CO2 nach seiner Verarbeitung zu E-Treibstoff letztlich doch in der Atmosphäre landet. Solche Punkte zu berücksichtigen, gehört für einen New Deal in Zeiten des rapide schwindenden CO2-Budgets einfach dazu.
Diese Kritikpunkte mögen an dieser Stelle genügen – es lassen sich durchaus noch weitere finden.
Fazit
„New Deal für das Erneuerbare Energiesystem“ bietet zweifellos interessante Ansätze; der abschlussreife Deal ist es nicht. Es ist ein Papier für eine noch zu führende Diskussion – aber eben auch nicht mehr als das.