02.10.2020
Wundermittel Wasserstoff? Teil 2
Ein Bericht von Götz Warnke
Geht es nach dem Willen der deutschen Bundesregierung mit ihrer im Juni diesen Jahres verkündeten Nationalen Wasserstoffstrategie, dann ist Wasserstoff (H2) quasi eine Allzweckwaffe für die Energiewende und gegen den Klimawandel. Und so wittern viele Interessierte und Engagierte jetzt "Morgenluft": Von dubiosen Aktienempfehlungs-Portalen ("Megatrend Wasserstoff") über Energiekonzerne, Gasespezialisten, Brennstoffzellen-Hersteller bis hin zu ganzen Regionen. So weit, so gut, doch wie so oft: "der Teufel liegt im Detail". Und da hat der Einsatz von Wasserstoff je nach Gebiet sehr unterschiedliche Herausforderungen.
Industrie
Schauplatz Hamburg Waltershof: Südlich vom Container-Terminal und mit eigener Hafenkante steht das ArcelorMittal-Stahlwerk. Das ehemalige Unternehmen "Hamburger Stahlwerke" des Stahl-"Rebellen" Willy Korf ist heute eine relativ kleine (1,1 Mio. t/Jahr), aber effiziente Produktionsstätte für Qualitätswalzdraht. Wie die gesamte Stahlindustrie steht man auch hier in einem scharfen internationalen Wettbewerb, und hat die Markteinbrüche 2009 (Wirtschaftskrise) und 2020 (Coronakrise) zu spüren bekommen.
Das Besondere in Waltershof ist die europaweit einzigartige Direkt-Reduktionsanlage: Dabei wird das per Schiff in Form von Pellets angelieferte Eisenerz in einem Schachtofen - mittels Synthesegas, bestehend aus Wasserstoff und anderen Gasen - bei ca. 1.000°C zu Eisen reduziert, d.h. dem Erz wird der Sauerstoff entzogen (Midrex-Verfahren). Der entstehende Eisenschwamm wird dann zusammen mit Stahlschrott in einem Lichtbogenofen eingeschmolzen und anschließend weiter verarbeitet.
Vorteil des Verfahrens ist u.a., dass gegenüber der konventionellen Stahlherstellung mit Eisenerz und Kohle/Koks nur etwa halb so viel CO2 entsteht.
Nachteil des Verfahrens ist, dass es z.B. immer noch 805 kg CO2 pro Tonne Walzdraht produziert, dass das Verfahren also keinesfalls CO2-frei ist. Der Grund dafür ist, dass als Ausgangsstoff für die Reduktionsgase Erdgas verwendet wird. Dieses Erdgas wird per energieintensiver Dampfreformierung zu Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff aufgespalten, welche dann in den Schachtofen geleitet werden.
Natürlich muss und will auch die Stahlindustrie aus Klimaschutzgründen innerhalb einer Generation CO2-frei werden - immerhin macht die Stahlherstellung 7% der deutschen Klimagas-Emissionen aus. Und die Direkt-Reduktionsanlage ist prinzipiell für einen solchen Wandel geeignet. Daher möchte das Hamburger ArcelorMittal-Werk seine Eisenpellets im Schachtofen mit reinem Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien behandeln. Doch diese Methode hat ihre verfahrenstechnischen Tücken, zumal dann auch der Kohlenstoff später bei der Lichtbogenschmelze zum Abschirmen des entzündlichen Eisenschwamms fehlt. Daher kooperieren die Hamburger mit dem Spezialisten Midrex H2, der zum japanischen Kobe Steel Konzern gehört. Die erste Pilotprojekt-Phase ist die Umstellung des Verfahrens auf reinen, aber grauen Wasserstoff aus Dampfreformierung. Wenn das in diesem industriellen Maßstab funktioniert, folgt als zweite Phase die Umstellung auf grünen Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien, wozu ein Elektrolyseur von 50 MW benötigt wird. Zum Vergleich: ein ähnliches Projekt bei der Salzgitter Flachstahl GmbH läuft mit einem Elektrolyseur von 0,72 MW Leistung!
Die Demonstrationsanlage bei ArcelorMittal soll 2024 fertig sein und jährlich 100.000 t Eisenschwamm produzieren. Das geschätzte Gesamtinvestitionsvolumen liegt derzeit bei ca. 110 Mio. Euro, wovon ein nicht unerheblicher Teil aus öffentlichen Fördermitteln stammt. Dennoch wird die CO2-freie Erzeugung den Stahl künftig deutlich teurer machen, was letztlich die Endkunden bezahlen müssen. Mag das z.B. bei Schrauben - 100 Stück M10/35 mm aus klimaneutralem Stahl kosten dann etwa 50 Cent mehr - noch nicht das große Problem sein, könnte es schon bei Autos (800 kg Stahl) mit einem Preisaufschlag von ca. 630 Euro nach Meinung von Uwe Braun, Geschäftsführer der Arcelor-Mittal Hamburg, problematisch werden: "Die Stahlabnehmer sind sehr preissensibel, und wir stehen in einem harten internationalen Wettbewerb." Dieses Problem wird sich sicher lösen lassen - über CO2-Abgaben, Grün-Stahl-Quoten und die Festlegung auf CO2-freien Stahl in den Ausschreibungen öffentlicher Projekte. Und auch der preissensible Autofahrer als Endkunde ist nicht "in Stein gemeißelt": so mancher E-Auto-Fahrer wird sich wünschen, neben einem CO2-freien Antrieb auch eine CO2-freie Karosserie zu haben. Und für viele TESLA-Fans dürften 630 Euro "mehr oder weniger" bei Autopreisen von fast 50.000 Euro nicht das Problem sein.
Das eigentliche Problem liegt auf einem anderen Feld: Allein für die Energieversorgung der Pilot-Reduktionsanlage mit jährlich 100.000 t Eisenschwamm benötigt man 22 Offshore-Windkraftanlagen der 5-MW-Klasse. Will man das gesamte kleine Hamburger Werk auf Erneuerbare Energien umstellen - also Elektrolyse, Reduktionsanlage und Lichtbogenschmelze bei einer Produktion 1 Mio. t/Jahr - , so wären bereits 174 dieser Anlagen nötig. Und um die gesamte deutsche Stahlindustrie (ca. 43 Mio. t/Jahr) CO2-frei zu machen, müsste man sogar 7.000 Offshore-Windräder der 5-MW-Klasse aufstellen. Wohlgemerkt: Heute stehen gerade einmal 1.350 Turbinen vor den deutschen Küsten.
Und das ist noch nicht einmal der Endpunkt: möglichst grüner Wasserstoff wird auch in der Düngemittelherstellung, bei der Kunststoffproduktion, bei der Mineralölverarbeitung, der Glasfabrikation, der Siliziumchemie und bei Nichteisen-Metallen benötigt - von politischen Tagträumen wie Flotten von Wasserstoff-Autos und -Flugzeugen ganz zu schweigen.
Wie sollen diese gewaltigen Mengen nicht nur produziert, sondern an die entsprechenden Nutzer auch distribuiert werden?
Davon im nächsten und letzten Teil dieser Serie.
Wundermittel Wasserstoff? Teil 1
Wundermittel Wasserstoff? Teil 2
Wundermittel Wasserstoff? Teil 3