02.08.2019
Wir fahrn fahrn fahrn - mit der Bundesbahn?
Eine Realsatire von Götz Warnke:
Hätten meine Frau und ich uns auf einer verkehrspolitischen Diskussion kennen gelernt, wir wären nie zusammengekommen. Meine Frau fliegt nämlich gerne – nicht häufig, aber beruflich bisweilen auch innerdeutsch zu Terminen. Ihre Argumentation in etwa: Es geht schnell, man kommt meist pünktlich an, und verpasst so keine Zusammenkünfte – letzteres wäre nicht nur ärgerlich, sondern wegen der dadurch notwendigen weiteren Reisen auch klimaschädlich. Und zudem sind viele Flüge erheblich günstiger als Bahntickets – man beachte die Reihenfolge! Denn für viele beruflich Reisende sind pünktliches Ankommen und die Arbeitsmöglichkeit im Zug erheblich wichtigere Faktoren als der Ticket-Preis.
Ich hingegen besitze eine Bahncard 25 und reise trotz allem zu den wenigen Terminen außerhalb Hamburgs klimafreundlich meist auf Schienen – so auch am vergangenen Montag, als die Redaktionskonferenz der DGS-News für 12 Uhr in Nürnberg anberaumt war.
Nachdem ich mich am Montagmorgen im Bahnhof Hamburg-Altona verproviantiert habe, finde ich meinen hier für 6:09 Uhr eingesetzten Zug auch schon auf dem Gleis stehend vor. Gerade will ich mich auf die Suche nach meinem Wagen und dem Sitzplatz machen, als ein Laufband an der Anzeigentafel Unheil verheißt. Ach, nur die Wagen-Reihenfolge des Zuges ist umgestellt worden, halb so wild. Zwei freundliche Bahnmitarbeiter weisen mich darauf hin, dass man auch die Nummerierung der Wagen umstellen werde: der letzte Wagen, der außen die Nummer 31 trägt und innen die Nummer 11 anzeigt, sei in Wirklichkeit Wagen 21 – aha! Ich danke und finde tatsächlich meinen Sitzplatz. Mit einer bahnpünktlichen leichten Verspätung fährt der ICE dann los, aber das von mir für die redaktionelle Arbeit im Zug geschätzte WLAN fällt diesmal aus. Beim Halt am Hamburger Hauptbahnhof weist uns der Chef des Zugbegleiter-Teams mit manieriert-öliger Stimme aus dem Lautsprecher darauf hin, dass auch sonst im Zug nicht alles in Ordnung ist: Wagen 22 dürfe wegen defekter Bremsen nicht genutzt werden und die Plätze dort seien mit Flatterband abgesperrt – die Fahrgäste sollten sich andere Plätze suchen, die Sitzplatzreservierungen würden erstattet. Der Zug wird immer voller, die Leute sitzen in den Gängen, der Wagen 22 fehlt deutlich nicht nur wegen der abgesperrten Sitzplätze, sondern auch wegen der gesperrten Toiletten. Doch das ist erst der Anfang:
Göttingen, Regen. Der Zug hat ordentlich Verspätung. Die manieriert-öliger Stimme aus dem Lautsprecher erklärt, dass der letzte Wagen Nr. 21 (meiner!) nicht mehr ganz an den Bahnsteig passe; daher müssten die Aussteigenden durch den Wagen 22, dessen Außentüren verschlossen seien, in den Wagen 23 gehen und dort aussteigen. Ich bin froh, sitzenbleiben zu können und nicht Teil der Völkerwanderung zu werden. Doch es strömen noch mehr Leute herein, wieder sind die Gänge voll mit Sitzenden. Und jetzt teilt auch noch die Lautsprecherstimme im gewohnten Ton mit, dass man nicht weiterfahren könne: zwischen Göttingen und Kassel-Wilhelmshöhe sei eine Weiche defekt. Eine Ausweichstrecke scheint es nicht zu geben. In Folge kommen immer wieder Durchsagen, dass sich die Weiterfahrt um je 10 Minuten verzögere. Die Fahrgäste reagieren inzwischen mit Gelächter auf die Durchsagen – nicht etwa hämisch-empört, sondern wissend-resigniert nach dem Motto: so ist sie halt, die Deutsche Bahn.
- 9:45 Uhr, immer noch Göttingen: jetzt haben wir 45 Minuten Verspätung. Aus der Lautsprecherstimme ist alle manierierte Öligkeit gewichen, als sie weitere 10 Minuten Verspätung ankündigen muss. Fast schon verzweifelt klingt jetzt der Mann; er kann einem leid tun wie so viele engagierte Bahnmitarbeiter. Es wird kalt im Zug, und die Bahnmitarbeiter können auch auf Bitten offensichtlich die Klimaanlage nicht regulieren.
- 9:59 Uhr: der Zug setzt sich mit insgesamt einer Stunde Verspätung in Bewegung, das Aufatmen der Fahrgäste ist hörbar, zumal einige in Kassel sogar noch ihre ebenfalls stark verspäteten Anschlusszüge erreichen – wir sind also kein Einzelfall. Ab Kassel-Wilhelmshöhe macht dann eine neue Stimme die Durchsagen – man kann nur hoffen, dass das alte Team wegen Schichtwechsel und nicht wegen seelischer Erschöpfung ausgetauscht wurde. Bald werden freundlich und zügig die Fahrgastrechte-Formulare ausgeteilt – damit hat das Personal offensichtlich Erfahrung.
- 12:11 Uhr. Ein Blick in den unbedingt frei zu haltenden Wagen 22 zeigt: er ist voll besetzt. Überall hinter dem Flatterband haben es sich die „Fußboden-Reisende“ bequem gemacht, und hinten in der Ecke hat sogar ein Schaffner sein Plätzchen gefunden.
- Um 12:25 Uhr erreiche ich „pünktlich“ Nürnberg Hbf. – die Bahn hat ihre einstündige Verspätung nicht weiter ausgebaut. Die Kollegen in der Redaktion hatten sich schon Sorgen gemacht; uns fehlt die eine Stunde.
Auf der Rückfahrt nach Hamburg ein ähnliches Spiel: der Zug aus München kommt schon mit einer Viertelstunde Verspätung in Nürnberg an, in Kassel-Wilhelmshöhe nehmen wir auch noch die Passagiere eines ICEs aus dem badischen Rheintal auf, der mit einem technischen Defekt „alle Drehgestelle von sich gestreckt“ hat. Die Gänge bieten wieder das gewohnte Bild eines Obdachlosenasyls. Ohne einen reservierten Sitzplatz und das hier funktionierende WLAN könnte ich nicht arbeiten. Die Verspätung wächst, weil wir noch außerplanmäßig Passagiere des gestrandeten ICEs nach Göttingen bringen – das ist o.k.; schließlich wollen die Menschen nach Hause. Noch kurz vor Mitternacht bin auch ich wieder in meinen vier Wänden, allerdings nur unter Zuhilfenahme eines Taxis. Meine Frau schläft zum Glück schon, so dass ich nicht von der Reise erzählen und mir anschließend ein „Siehste“ anhören muss. Auch morgen beim Frühstück werde ich das Thema umschiffen und nur von unserer produktiven Redaktionssitzung berichten. Noch was essen und ab ins Bett – da sehe ich die Zeitung von heute: CSU-Chef Markus Söder möchte die Mehrwertsteuer auf Bahnfahrkarten streichen, um so Inlandsflüge überflüssig zu machen. Ich bin fassungslos!
Seit rund einem Jahrzehnt ist das Verkehrsministerium fest in der Hand mehr oder minder großer Polit-Clowns von der CSU. Die haben uns nicht nur so originelle „Verkehrslösungen“ wie die EU-rechtlich unhaltbare PKW-Maut, das Diesel-Chaos und den E-Scooter – diese Infantilisierung des Verkehrssystems – beschert, sondern unter ihrer Ägide sind auch die Erneuerung der Schleusen des Nord-Ostsee-Kanals und geeignete Maßnahmen gegen die Sicherheitslücken beim Flughafen Berlin Brandenburg (BER) zu spät in Angriff genommen worden. Insbesondere die dem Bund gehörende Deutsche Bahn ist in den vergangenen Jahren regelrecht „ausgeblutet“ worden: Streckenstilllegungen, die auch mögliche Ausweichstrecken eliminieren, das Fahren auf Verschleiß des Materials, der Personalmangel, klamme Kassen sowie ein Investitionsstau von rund 57 Milliarden €* führen zu vermehrtem Umsteigen, Verspätungen, Zugausfällen, fehlenden Arbeitsmöglichkeiten im Zug und dauerhaft enttäuschten Kunden wie meine Frau. Und diese ganzen Mängel inklusive des Vorteils der billigen, kerosinsteuerbefreiten Inlandsflüge möchte der CSU-Vorsitzende im Sommerloch offensichtlich durch eine Preissenkung von nur rund 20% vergessen machen? Ohne die Sicherheit, dass eine solche Steuerbefreiung EU-rechtlich überhaupt Bestand hat? Im Ernst?? Wo lebt der Mann eigentlich?!? (Ja, ich weiß, in München. Dort, wo man bisweilen ein Bierseidel über den Schädel bekommt, was dann zu bleibenden Schäden führen kann.)
Manchmal kann der Irrsinn des Politbetriebs den Irrsinn des Bahnbetriebs noch deutlich übertreffen. Und man sieht, wer am Erdüberlastungstag noch so alles überlastet ist.
Götz Warnke
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https://www.n-tv.de/wirtschaft/Bahn-faehrt-seit-Jahren-auf-Verschleiss-article20760947.html
https://www.swr.de/report/bahnchaos-wegen-krankheit-wie-gross-ist-das-personalproblem-der-deutschen-bahn/-/id=233454/did=23922530/nid=233454/1iqwxbs/index.html
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/57-milliarden-euro-investitionsstau-bei-der-bahn-16071615.html