03.08.2018
Das Schweizer Hochspannungs-Experiment
Das Übertragungsnetz für Strom muss ausgebaut werden, gerade in Deutschland. Das ist unumstritten. Nicht einig sind sich Trassenfetischisten und Dezentralisten, wie viele Kilometer Höchstspannungs-Drehstrom- (AC-) und Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ) wirklich nötig sind, um die Wende von Kohle- und Atom- hin zu 100 Prozent Ökostrom zu schaffen. Vor allem gegen den Neubau hoher Masten oder in der Erde verbuddelter HGÜ-Kabel gibt es überall Proteste. „Landschaftsverschandelung, Gesundheitsrisiken, schlichtweg unnötig“ sind einige der genannten Gründe dafür. Könnten so genannte Hybridleitungen den Gordischen Leitungsknoten lösen?
Hybridleitungen kombinieren den Transport von Höchstspannungs-Gleichstrom und -Drehstrom auf ein- und demselben Mast. Wie wirkt sich ein solches Spannungs-Doppel auf die Übertragungskapazität aus? Und: Wie ist die Akzeptanz der Bevölkerung dafür? Diese beiden kritischen Punkte von >HGÜ plus AC< untersucht ein Schweizer Forschungsprojekt. Die Wissenschaftler mehrerer Hochschulen nehmen außerdem weitere Umweltthemen dieser Kombination gemeinsam unter die Lupe.
Regenerativ erzeugter Strom bringt die Betreiber von Übertragungsnetzen in Schwitzen, gerade in Deutschland: Die Leitungen sind oft schon durch den Grundlaststrom großer konventioneller Kraftwerke fast ausgelastet. Und dann kommt auch noch der je nach Sonnen- oder Windintensität schwankende Ökostrom dazu. Eigentlich wäre der dezentrale Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch das Maß aller Dinge in einer nachhaltigen Stromwirtschaft. Die Energietechnische Gesellschaft im VDE (ETG) hat in ihrer Studie „Der Zellulare Ansatz“ vom Juni 2015 aufgezeigt, was wirklich notwendig wäre an zusätzlichem Stromnetzausbau hierzulande: Bis zu 45 Prozent der von der Bundesnetzagentur vorgeschlagenen neuen Höchstspannungsleitungen seien überflüssig, so die Berechnungen. Doch einen Fakt stellt auch die ETG heraus: Damit überschüssiger Regenerativstrom andernorts verbraucht werden kann, braucht es mehr Leitungskapazität.
Egal, ob neue Leitungen nun als AC- oder HGÜ-Trassen ausgeführt werden sollen, ob über- oder unterirdisch: Ein Problem ist fast überall dasselbe. Und damit müssen sich die Planer auseinandersetzen: Weite Teilen der Bevölkerung stehen neuen Leitungen kritisch gegenüber. Gerade Trassen mit bis zu 70 Meter hohen neuen Masten quer durch die Landschaft rufen Gegner auf den Plan.
Eine mögliche Lösung haben Wissenschaftler der ETH Zürich, der Universität Bern und des Schweizer Netzbetreibers Swissgrid untersucht. In ihrer gemeinsamen Studie haben sie herausgefunden: Wechselt man auf bestehenden Trassen einzelne AC- durch HGÜ-Leitungen aus, kombiniert man also beide Stromsysteme auf demselben Mast, dann geht einerseits die Übertragungskapazität auf solchen „Hybrid-Leitungen“ signifikant nach oben. Und andererseits ist „die generelle Akzeptanz solcher Hybrid-Leitungen positiv. Gerade, wenn als Alternative eine neue überirdische Trasse ins Spiel gebracht wird.“
So steht es in einer aktuellen Veröffentlichung, die Projektleiter Professor Christian Franck vom Institut für Hochspannungstechnik der ETH Zürich und fünf weitere Autoren für CIGRE, den Internationalen Rat für elektrische Energiesysteme mit Sitz in Paris, geschrieben haben
Doch wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Auch bei Hybrid-Leitungen. „Aufgrund von Interferenzen zwischen den AC- und DC-Systemen treten jedoch abhängig von Wetterbedingungen, Verschmutzung der Leiterseile und der Distanz zwischen den Gleich- und Wechselspannungsleitern störende Geräusche sowie elektrische Felder auf“, bekennen die Forscher.
Ein wichtiges Thema, gerade in der Schweiz. Denn dort sind viele Grenzwerte um ein Vielfaches niedriger angesetzt als in Deutschland und dem Rest Europas. Zudem ist das dort geltende „Verbesserungsgebot“ auch für Umrüstungen einzuhalten. „Wir müssen die Effekte verstehen und die Leitungen dann kompliziert optimieren“, erklärt Prof. Franck am Telefon.
„Um bei möglichst hoher Übertragungskapazität störende Effekte wie das Korona-Brummen und elektrische Felder zu minimieren, haben wir unter verschiedenen realen Bedingungen an Testleitungen im Labor und im Freifeld die ideale Spannung und die beste Mastgeometrie ermittelt.“ So wäre beispielsweise „aus Geräuschentwicklungsgründen sinnvoll, den lauten Pluspol der HGÜ-Leitung oben anzuordnen“; der Minuspol sollte ebenfalls außen, also wohl unten am Mast hängen, nennt Christian Franck ein konkretes Testergebnis.
Denn „die Akzeptanz ist natürlich umso höher, je mehr es gelingt, negative Effekte einer Technologie zu verringern“, ergänzt Professorin Isabelle Stadelmann-Steffen vom Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern.
Doch noch ist alles Theorie. Denn bislang wurde keine „echte“ Hybridleitung gebaut. In der recht kleinen Schweiz dürfte HGÜ eh erst dann zum Einsatz kommen, „wenn Norden und Süden, also Italien mit Deutschland gekoppelt werden. Dann wäre hier im Alpenraum ein DC-Knoten machbar“, so Prof. Franck. Und dann könnten auch große Pumpspeicherkraftwerke in der Eidgenossenschaft Leistungsschwankungen durch Wind- oder Sonnenstrom im Verbundnetz ausgleichen, so eine Idee. Aber vielleicht könnten ja Hybridleitungen zuerst in Deutschland den Gordischen Stromnetzknoten durchschlagen?
Heinz Wraneschitz