15.12.2023
Eine "Meinungsverschiedenheit" zwischen zwei Klimaforschern
Robert Chris und Hugh Hunt haben am 8. Dezember auf The Conversation, einer Online-Plattform für Akademikern und Journalisten, einen interessanten Aufsatz mit dem Titel "The disagreement between two climate scientists that will decide our future" veröffentlicht. Übersetzt heißt das so viel wie "Die Uneinigkeit zweier Klimaforschern, die über unsere Zukunft entscheiden wird." Der Kern dieser Kontroverse ist elementar und wichtig, auch wenn es in der Wissenschaft natürlich nicht um "Meinungen" geht. Der Gedanke könnte aufkommen, da "Disagreement" gerne auch mit "Meinungsverschiedenheit" übersetzt wird. Matthias Hüttmann hat den Text hier für Sie frei übersetzt:
Die Erreichung sogenannter Netto-Null-Emissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts gilt gemeinhin als die größte Hoffnung der Menschheit, einen weiteren Anstieg der Erderwärmung, die derzeit schon um 1,2 °C über dem vorindustriellen Niveau liegt, zu verhindern. Denn anderenfalls könnte ein Punkt erreicht werden, an dem ein Zusammenbruch der menschlichen Gesellschaft eintreten könnte.
Allerdings ist wenigstens ein renommierter Klimawissenschaftler anderer Meinung: James Hansen von der Columbia Universität in den USA veröffentlichte im November zusammen mit Kollegen ein Papier, in dem er behauptet, dass die Temperaturen schneller und höher steigen werden als der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) vorhersagt. Seiner Ansicht nach ist das 1,5 °C-Ziel bereits Makulatur.
Er behauptet außerdem, dass das Netto-Null-Ziel nicht mehr ausreicht, um eine Erwärmung von mehr als 2 °C zu verhindern. Um den Temperaturanstieg auf der Erde wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, so Hansen, sei es notwendig, den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu beschleunigen, die Zusammenarbeit zwischen den größten Emittenten zu verstärken, um den Bedürfnissen der Entwicklungsländer Rechnung zu tragen, und - das ist sehr umstritten - in den Strahlungshaushalt der Erde einzugreifen, um die Oberfläche des Planeten abzukühlen. Unter Strahlungshaushalt versteht man die Differenz zwischen einfallendem und ausgehendem Licht sowie der damit verbundenen Wärme.
Für die ersten beiden Empfehlungen dürfte es breite Zustimmung geben. Aber Hansens Befürwortung von etwas, das auf eine absichtliche Reduzierung des Sonnenlichts, das die Erdoberfläche erreicht, hinausläuft, hat anscheinend für viel Unbehagen gesorgt.
Michael Mann von der Universität von Pennsylvania in den USA, ebenfalls ein Titan der Klimawissenschaft, sprach für viele, als er die Regulierung der Sonneneinstrahlung als "potenziell sehr gefährlich" und eine "verzweifelte Aktion" zurückwies, die auf dem "Trugschluss beruht, dass die großräumige Erwärmung wesentlich stärker sein wird, als es die Modelle der aktuellen Modellgeneration vorhersagen".
Ihre Positionen sind also nicht miteinander zu vereinbaren. Wer hat also Recht - Hansen oder Mann?
Die Strahlungsbilanz der Erde
Zunächst eine Erklärung: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die globale Erwärmung zu verringern. Die eine besteht darin, die von der Erdoberfläche abgestrahlte und in den Weltraum entweichende Wärmemenge zu erhöhen. Die andere besteht darin, den Anteil des Sonnenlichts zu erhöhen, der in den Weltraum reflektiert wird, bevor er auf etwas irdisches trifft - sei es ein Teilchen in der Atmosphäre oder etwas auf der Erdoberfläche - und in Wärme umgewandelt wird.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, beides zu tun. Alles, was die Menge der Treibhausgase in der Atmosphäre verringert, lässt mehr Wärme ins All entweichen (z. B. das Ersetzen fossiler Brennstoffe durch Erneuerbare Energien, weniger Fleisch essen und den Erdboden weniger bewirtschaften). Alles, was den Planeten aufhellt, reflektiert mehr Sonnenlicht in den Weltraum (z. B. das Wiedereinfrieren der Arktis, die Aufhellung der Wolken oder die Anreicherung der Atmosphäre mit mehr reflektierenden Partikeln).
Der Hauptunterschied zwischen den beiden Maßnahmen im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die globale Erderwärmung ist jedoch die jeweilige Reaktionszeit. Das heißt, wie lange es dauert, bis sich eine Veränderung der Faktoren, die mehr Wärme entweichen lassen oder Sonnenlicht reflektieren, in einer Veränderung der Temperatur der Erdoberfläche niederschlägt.
Eingriffe, die den Wärmeverlust der Erdoberfläche beschleunigen, kühlen den Planeten langsam ab, über Jahrzehnte und länger. Wenn man eingreift, um das von der Erde in den Weltraum zurückgeworfene Sonnenlicht zu verstärken, kühlt sich der Planet mehr oder weniger sofort ab.
Der Kern des Streits zwischen Mann und Hansen ist die Frage, ob die Verringerung der Treibhausgase durch eine Kombination aus der Reduzierung neuer Emissionen und der dauerhaften Entfernung früherer Emissionen aus der Atmosphäre allein ausreicht, um zu verhindern, dass die Erwärmung ein Ausmaß erreicht, das die wirtschaftliche und soziale Stabilität bedroht.
Mann bejaht diese Frage. Hansen meint, dass diese Maßnahmen zwar nach wie vor unerlässlich sind, aber nicht mehr ausreichen und wir die Erde auch reflektierender machen müssen.
Wann wird die Erwärmung enden?
Mann stimmt mit der Lehrmeinung des IPCC überein, indem er sagt, dass sich die Temperatur der Erdoberfläche innerhalb von ein oder zwei Jahrzehnten auf dem dann erreichten Niveau stabilisieren wird, sobald die Emissionen auf Null gesunken sind.
In der Tat gibt es keine signifikante Erwärmung, die auf frühere Emissionen zurückzuführen wäre. Die gesamte zukünftige Erwärmung wird auf zukünftige Emissionen zurückzuführen sein. Dies ist die Grundlage für das globale politische Gebot, den Netto-Nullpunkt zu erreichen.
In seinem neuen Papier argumentiert Hansen, dass sich die Temperatur an der Erdoberfläche nach einigen hundert Jahren zwischen 8°C und 10°C über dem vorindustriellen Niveau stabilisieren wird, wenn die atmosphärische Konzentration von Treibhausgasen in etwa auf dem derzeitigen Niveau bleibt.
Davon werden bis zur Mitte des Jahrhunderts mindestens 2 °C, und in einem Jahrhundert wahrscheinlich weitere 3 °C erreicht werden. Ein Temperaturanstieg dieses Ausmaßes wäre für das Leben auf der Erde katastrophal. Hansen ergänzt, dass es, um ein solches Szenario zu vermeiden, jetzt notwendig ist, die Erde „aufzuhellen", um die Erwärmung zu stoppen, die durch die Emissionen der Vergangenheit bereits im Gange ist.
Gleichzeitig müssen, so Hansen, die Emissionen weitgehend eingestellt werden, wenn wir verhindern wollen, dass sich dieses Problem in Zukunft wiederholt.
Es wird immer noch heißer...
Wir sind Wissenschaftler, die die Durchführbarkeit und Wirksamkeit alternativer Reaktionen auf den Klimawandel untersuchen und dabei sowohl die technischen als auch die politischen Realitäten berücksichtigen, um Veränderungen in dem erforderlichen Umfang und Tempo zu ermöglichen.
Uns überzeugt Manns Widerlegung von Hansens Behauptungen nicht. Entscheidend ist dabei, dass Mann nicht direkt auf Hansens Analyse der neuen Daten der letzten 65 Millionen Jahre eingeht.
Hansen erklärt, wie die von den IPCC-Wissenschaftlern zur Bewertung künftiger Klimaszenarien verwendeten Modelle die erwärmende Wirkung erhöhter Treibhausgasemissionen und die kühlende Wirkung von Aerosolen erheblich unterschätzt haben, und wie lange das Klima braucht, um auf diese Veränderungen zu reagieren.
Neben Treibhausgasen stößt die Menschheit auch Aerosole aus. Dabei handelt es sich um winzige Partikel, die ein breites Spektrum an Chemikalien enthalten. Einige, wie das Schwefeldioxid, das bei der Verbrennung von Kohle und Öl freigesetzt wird, gleichen die Erwärmung durch Treibhausgase aus, indem sie das Sonnenlicht zurück ins All reflektieren.
Andere, wie z. B. Ruß, haben den gegenteiligen Effekt und tragen zur Erwärmung bei. Die kühlenden Aerosole überwiegen bei weitem.
Hansen geht davon aus, dass die geringere Aerosolverschmutzung durch den Schiffsverkehr in den kommenden Monaten zu einer Erwärmung von bis zu 0,5 °C mehr führen wird, als die IPCC-Modelle vorhergesagt haben. Dies würde die globale Erwärmung bereits im nächsten Jahr in die Nähe von 2 °C bringen, obwohl sie dann wahrscheinlich etwas zurückgehen wird, wenn der derzeitige El Niño abklingt.
Hansen stützt seine Argumentation auf die Überzeugung, dass das Klima empfindlicher auf Treibhausgase reagiert als bisher angenommen. Der IPCC schätzt, dass eine Verdoppelung des atmosphärischen CO₂ die Temperatur der Erde um 3 °C ansteigen lässt. Hansen rechnet mit 4,8 °C.
Dies und die viel längere Reaktionszeit des Klimas, die Hansen aus den historischen Aufzeichnungen errechnet, hätten erhebliche Auswirkungen auf die Prognosen der Klimamodelle.
Zeit zum Nachdenken
Die Unterschiede zwischen Mann und Hansen sind für die globale Reaktion auf den Klimawandel von Bedeutung.
Mann ist der Meinung, dass es ausreicht, die Emissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Null zu reduzieren, während Hansen behauptet, dass dies allein eine Katastrophe wäre und dass jetzt zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Planeten aufzuhellen.
Eine Aufhellung der Erde könnte auch die bereits durch den Klimawandel verursachte Verringerung des Reflexionsvermögens rückgängig machen. Daten zeigen, dass die Erde diesbezüglich zwischen 1998 und 2017 um etwa 0,5 Watt pro Quadratmeter schwächer geworden ist, was hauptsächlich auf den Verlust von Eis zurückzuführen ist.
In Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, hoffen wir, dass Mann und Hansen diese Unstimmigkeiten schnellstens ausräumen, damit die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsträger verstehen, was nötig ist, um die Wahrscheinlichkeit einer bevorstehenden massiven und weit verbreiteten Zerstörung von Ökosystemen und deren katastrophale Auswirkungen auf die Menschheit zu minimieren.
Hier finden Sie die ausführliche Replik von Michael E. Mann auf den Artikel von James Hansen
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