28.07.2023
Über die Debatte zur Nichtanwendung eines wirksamen Gesetzes
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Laut Klimaschutzgesetz (KSG) müssen alle Wirtschaftssektoren den Ausstoß von Treibhausgasen vermindern. Wenn der Fall eintritt, dass in einem der Sektoren (Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Landwirtschaft oder Abfallwirtschaft und Sonstiges) im zurückliegenden Jahr höhere Jahresemissionsmengen verursacht wurden als im KSG festlegt, so muss das verantwortliche Bundesministerium eine Lösungsstrategie entwickeln. Sprich: neue, zusätzliche Maßnahmen um die sektorspezifischen Jahresemissionsmengen zu reduzieren. Für die Erstellung eines solchen „Sofortprogramms“ haben die zuständigen Ressorts drei Monate Zeit, nachdem der Expertenrat für Klimafragen seine Stellungnahme veröffentlicht. 2021 traf dieser „Nachsteuerungsmechanismus“ zum ersten Mal zu, da im Gebäudebereich im Vorjahreszeitraum das Sektorziel um zwei Millionen Tonnen CO2-Äquivalente verfehlt wurde.
2022 stand fest, dass sowohl der Verkehrs- als auch der Gebäudesektor die Ziele im Vorjahr verfehlten. Im „Zweijahresgutachten 2022“ teilt der Expertenrat für Klimafragen mit, dass die bisher erreichten THG-Minderungsraten „bei weitem“ nicht ausreichen, „um die Klimaschutzziele für das Jahr 2030 zu erreichen – weder in der Summe noch in den einzelnen Sektoren“. Bis 2030 müssten sich die durchschnittliche jährliche Minderungsmenge im Vergleich zum Zeitraum von 2011 bis 2021 „mehr als verdoppeln“. Für zwei Sektoren konstatieren die Ratsmitglieder noch größeren Handlungsbedarf: „Im Industriesektor wäre etwa eine 10-fache und beim Verkehr sogar eine 14-fache Erhöhung der durchschnittlichen Minderungsmenge pro Jahr notwendig“.
Dieses Jahr, im April, berichtete der Expertenrat für Klimafragen, dass Verkehrs- und Gebäudesektor auch 2022 die Emissionsziele verfehlten. Die Dreimonatsfrist zur Vorlage der jeweiligen „Sofortprogramme“ für das Bundesministerium für Digitales und Verkehr und das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen endete am 17. Juli.
Verpflichtung zur Vorlage eines „Sofortprogramms“
Weder der Bundesminister Volker Wissing noch die Bundesministerin Klara Geywitz haben ein „Sofortprogramm“ vorgelegt. Das kritisierten Umweltverbände und die Fridays-for-Future-Bewegung deutlich. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags – welcher die Abgeordneten bei der Ausübung ihres Mandates unterstützt – geht davon aus, dass ein „Sofortprogramm“ vorgelegt werden muss. In der „Kurzinformation: Zur Vorlage eines Sofortprogrammes nach § 8 des Bundes-Klimaschutzgesetzes“ des Informationsdienstes, mit Datum vom 25. April 2023, steht: „Nach geltender Rechtslage sind sowohl das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, als auch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr zur Vorlage eines Sofortprogrammes bis zum 17. Juli 2023 verpflichtet.“
Auslegung des Rechtsstaatsprinzips
Ende März gab der Koalitionsausschuss Beschlüsse für ein „Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung“ bekannt. In Bezug auf das KSG einigte sich die Ampelkoalition darauf, dass zukünftig „anhand einer sektorübergreifenden und mehrjährigen Gesamtrechnung“ überprüft werden soll, ob die Klimaschutzziele eingehalten werden. Als Basis dafür soll das jährliche Monitoring dienen. „Klimaschutz soll damit zu einer echten Querschnittsaufgaben der Bundesregierung werden“ ist dort zu lesen. Außerdem wurden Maßnahmen zur Emissionsminderung im Verkehrssektor genannt, die im geplanten sektorübergreifenden Klimaschutzprogramm berücksichtigt werden sollen, „welches das Kabinett gemeinsam mit der Novellierung des Klimaschutzgesetzes beschließen wird“. Genannt werden unter anderem eine CO2-basierte Lkw-Maut, das Deutschlandticket, der Ausbau von Ladesäulen und Radverkehrsinfrastruktur. Vor dem Hintergrund der geplanten Gesetzesnovelle war bei einer Pressekonferenz der Bundesregierung am 17. Juli von einer neuen „Beschlusslage“ die Rede. Bei einer weiteren Pressekonferenz zwei Tage später war eine der Aussagen die Zuversicht, „dass die Beschlüsse des Koalitionsausschusses zeitnah“ umgesetzt werden. Es sei „durchaus möglich, dass das neue Klimaschutzgesetz und das damit verbundene Klimaschutzprogramm der Bundesregierung vor der Sommerpause verabschiedet werden“. Der oben erwähnte Bericht des Wissenschaftliche Dienstes benennt diese politische Diskussion zur Ausarbeitung eines „Sofortprogramms“. Stellt jedoch fest: „Auch eine politisch beabsichtigte Novellierung eines Gesetzes vermag an diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen nichts zu ändern“. Explizit sei die Nichtanwendung eines wirksamen Gesetzes durch die Regierung und Verwaltung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und der umfassenden Bindung der Regierung und Verwaltung an Gesetz und Recht nicht zu vereinbaren.
Auf die schriftliche Anfrage des Abgeordneten Victor Perli (Partei Die Linke) an die Bundesregierung zu diesem Thema, lautete die Antwort, der Entwurf für das geplante „Klimaschutzprogramm 2023“ beziehe „entsprechende Vorschläge der Ressorts für ein Sofortprogramm ein“
Ausblick auf den Herbst
Das geplante KSG wurde nicht mehr vor der Sommerpause beschlossen. Neben der Frage, ob alle in der KSG-Novelle geplanten Änderungen verfassungsgemäß sind, werden Juristen entscheiden müssen, ob es rechtens war, dass die Ministerien bis zum 17. Juli keine „Sofortprogramme“ vorgelegt haben. Nach Angaben des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wird die mündliche Verhandlung zu den Klagen der Vereine Deutsche Umwelthilfe (DUH) und Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) am 23. November stattfinden. Diese Klagen beziehen sich auf die „Sofortprogramme“.
Die DUH hat Vorschläge gesammelt, für beide Sektoren:
- Für den Verkehrssektor schlagen sie unter anderem vor: Tempolimit auf Autobahnen von 100 km/h und auf Außerortsstraßen von 80 km/h, innerorts eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h. Außerdem den Abbau von Subventionen für fossile Kraftstoffe (Dieselprivileg, Dienstwagenprivileg, Steuerbefreiung von Kerosin, Mehrwertsteuerbefreiung internationaler Flüge), ein Moratorium für den Aus- und Neubau von Fernstraßen, und die Abschaffung der Entfernungspauschale verbunden mit Entlastungen an anderen Stellen.
- Im Gebäudebereich wird etwa vorgeschlagen: Steigerung der Sanierungsrate auf mindestens drei Prozent pro Jahr und der Sanierungstiefe auf Effizienzhaus-55 Standard, Einführung von Mindesteffizienzstandards, die Einführung einer Abrissgenehmigungspflicht (in den Landesbauordnungen aller Bundesländer) und einer Pflicht für Ausgleichsmaßnahmen bei Versiegelung, die ordnungsrechtliche Einführung von Ökobilanz-Grenzwerten je Gebäude, die Verabschiedung von verbindlichen und jahresgenauen Energieeinsparzielen für die einzelnen Sektoren. Außerdem fordern sie, dass es keine Förderung von Heizungen gibt, die perspektivisch mit Wasserstoff, Biogas oder Biomethan arbeiten. Mit Blick auf die erneuerbaren Wärmequellen schlagen sie eine Priorisierung vor (große Solarthermie mit Wärmespeichern, tiefe Geothermie, Großwärmepumpen sowie unvermeidbare Abwärme). Sie fordern auch, dass Wärme aus Müllverbrennung nicht mehr als Erneuerbare Energie („wie derzeit für den Bioabfall“) oder als unvermeidbare Abwärme definiert wird.
Ausblick auf 2024
Darüber hinaus stehen nächstes Jahr weitere Verfahren an: die Forderung nach Aufstellung eines Klimaschutzprogramms nach § 9 KSG, „das mit seinen Maßnahmen geeignet ist, die Einhaltung der im Klimaschutzgesetz für verschiedene Sektoren vorgesehenen Jahresemissionsmengen sicherzustellen“. Sowie die Forderung nach Aufstellung eines wirksamen nationalen Programms zur Einhaltung der EU-Verpflichtungen zur Reduktion der nationalen Emissionen der Luftschadstoffe Ammoniak, Feinstaub, Schwefeldioxid und Stickstoffoxid.