16.06.2023
Können Klimaproteste die Politik beeinflussen?
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
In Berlin beginnt bald die parlamentarische Sommerpause. In dieser Woche, in der Bundestagsabgeordnete über die Novelle des Klimaschutzgesetzes (KSG) und das Gebäudeenergiegesetz (GEG) debattieren, fand ein Online-Gespräch zwischen Luisa Neubauer und Sven Giegold statt.
Giegold ist seit Dezember 2021 Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und war zuvor Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, Obmann der grünen Fraktion im Ausschuss für Wirtschafts- und Finanzpolitik und stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
Giegold war selbst in der Jugendumweltbewegung aktiv und im Jahr 2000 Mitbegründer von Attac. Im Rückblick sagte er, dass die damalige Bewegung zu keiner globalen Bewegung wurde, anders als es Fridays for Future (FFF) vor einigen Jahren geschafft hat. Dennoch wurden wesentliche Erfolge in der Umweltgesetzgebung geschaffen. Allerdings sei in dieser Zeit der ökologische Zustand des Planeten schlechter geworden.
Die Wirkmacht des Aktivismus
Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer von FFF sagte: „Aktivismus wirkt“. Das sei die Botschaft, die sie vermitteln möchte. Die Klimaaktivist:innen haben es ihrer Meinung geschafft, spätestens seit der letzten Europawahl Klimafragen ins Zentrum der Debatten zu bringen. Sie hatten dabei das Ziel, dass die Parteien das Thema Klimaschutz „in die DNA einbauen“. Dabei sei die Bewegung so erfolgreich gewesen, weil die Fossilindustrie nicht mit solchen Klimaprotesten gerechnet habe. Dass es in Deutschland inzwischen „ein Klimaschutzministerium“ gibt, das schreibt sie der Klimabewegung als Erfolg zu.
Sven Giegold stellte fest, dass die zivilgesellschaftlichen Proteste politisch viel „auf europäischer Ebene“ bewegt haben. Es gab überparteilichen Druck. Dieser sei ausschlaggebend für neue Gesetzesvorhaben gewesen. „Um Mehrheiten hinter sich zu versammeln“, habe Ursula von der Leyen deshalb den European Green Deal als Konzept vorgestellt. „Dieser Green Deal hat Europa positiv verändert“, ergänzte er. Er kritisierte, dass in Deutschland nur „das Verbrenner-Aus“ öffentlich debattiert wurde, andere Vereinbarungen, wie Deckelungen beim Emissionshandel, stattdessen nicht, obwohl es verbindliche Instrumente seien, die „gegen enorme Widerstände“ durchgesetzt wurden. „Diesen Deckel gibt es nur, weil Deutschland es wollte“, betonte er, und dieser „bezieht sich auf die sensibelsten Bereiche Verkehr und Gebäude“.
Green Deal noch Verhandlungssache
Andere Teile des European Green Deals „sind schwer umkämpft“, teilte Giegold mit. Seien es Richtlinien für Erneuerbare Energien oder Kreislaufwirtschaft. Im Bereich der Biodiversität, wo Regelungen in Bezug auf den Einsatz von Pestiziden vorgesehen sind, sieht er „alle Gesetze in akuter Gefahr“. Außerdem verlange die Fraktion der Christdemokraten ein „Belastungsmoratium“ für die Wirtschaft. Das gefährde die Erreichung der ursprünglich in den Green Deal gesteckten Ziele.
Landet die Klimafrage in einer Nische?
Neubauer meinte, dass angesichts der medialen Kampagnen gegen den aktuellen Gesetzesentwurf für eine Wärmewende, „etwas ins Rutschen gekommen“ sei. „In dieser Halbzeit dieser Legislaturperiode“ passiere etwas, das die Klimaschutzaktivist:innen verhindern wollten: „Eine Vernischung der Klimafrage“. „Klima“ sei „wieder zu einer politischen Frage geworden“, ergänzte sie, und „zu einem Privatproblem der Grünen deklariert“. An der Grünen Partei kritisierte sie, dass neue Kompromisse gemacht werden, „die wieder verhandeln was schon vereinbart wurde“. Etwa bei der KSG-Novelle. Somit stehe die Gesellschaft „gar nicht vor einem gemeinsamen Umbau“, stattdessen werden Machtkämpfe ausgetragen, vor einem „Schleier von Klimadebatten“. Sie sehe dabei einen „globaler Trend“. Sie warntee davor, dass langsame Änderungen in der Klimaschutzgesetzgebung „nicht gerechter, sondern ineffizienter und teurer“ für die Allgemeinheit werden.
Die „Klimalücke“ im Blick
Sven Giegold räumte ein, dass es nicht nur die Proteste auf der Straße waren, die zu Novellierungen in der Klimaschutzgesetzgebung in Deutschland geführt haben, sondern auch das Bundesverfassungsgericht (die DGS-News berichteten). Die Große Koalition habe in ihre Regierungszeit dann das KSG verschärft, weil sie dazu gezwungen war, doch sie „hat keine Maßnahmen festgelegt, wie die Ziele erreicht werden sollen“. Deshalb „gab es eine Klimalücke gegenüber dem Zielniveau“. Mit den bisher durch die Ampelregierung beschlossenen Maßnahmen „haben wir knapp 80 Prozent abgearbeitet“ betonte Giegold. „Natürlich nur, wenn die Sachen so umgesetzt werden“, ergänzte er, „das ist die Datenlage, das ist nicht 1,5 °C, sondern das Niveau des KSG“. Mit Blick auf das GEG räumte er ein, dass der erzielte Kompromiss „schwächer ist als im Koalitionsvertrag“. „Die reale Politik ist genau das“, resümierte er.
Die Online-Veranstaltung wurde vom Verein Europe Calling organisiert und von Maximilian Fries moderiert (Aufzeichnung).
Der Entwurf der Ampelkoalition für die Novelle des Klimaschutzgesetzes sieht vor, dass die bisherigen Sektorziele – für Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft sowie Abfallwirtschaft und Sonstiges – gestrichen werden. Das übergeordnete, sektorenübergreifende, Minderungsziel ist, die Emissionen an Treibhausgasen bis zum Jahr 2030 um mindestens 65 Prozent und bis zum Jahr 2040 um mindestens 88 Prozent (im Vergleich zum Jahr 1990) zu senken. Das Ziel, bis 2045 Treibhausgasneutralität zu erreichen, war im bisherigen Entwurf auch enthalten (die DGS-News berichteten).