09.10.2020
Energiewende ist Vorbedingung für langfristige Atommüll-Lagerung
Ein Kommntar von Christfried Lenz
Die Suche nach einem Standort für die Atommüll-Endlagerung hat Phase 2 erreicht: Regionen, die prinzipiell geologisch geeignet sein sollen, wurden genannt. Schon bricht der Streit los. Der Freistaat Bayern betrachtet die Zugehörigkeit zu seinem Territorium als Ausschlusskriterium. Das AKW-lose Sachsen-Anhalt will nicht Müllhalde der Atomkraftnutzer werden.
„Ausschließlich wissenschaftliche Kriterien“: unmöglich!
Dass ausschließlich geologisch-wissenschaftliche Kriterien ausschlaggebend sein sollen – wie soll das gehen? Schon ist auch die Bevölkerungsdichte am potenziellen Standort als Kriterium in der Diskussion. Und die Wissenschaft selbst kann unmöglich Eindeutigkeit liefern. Geologie findet nicht im Labor mit genau definierten Bedingungen statt, sondern im Unterirdischen. Dort spielt auch heute noch die alte Bergmannserfahrung „vor der Hacke ist es dunkel“ eine Rolle.
Wir sind verantwortlich für unseren Atommüll: ja!
Ich finde absolut korrekt, dass wir die Verantwortung für den in unserem Land entstandenen Atommüll übernehmen müssen. Es wäre der Gipfel der Schande, wenn wir auch diesen – wie den Plastikmüll und den gasförmigen Müll – in Länder verlagern würden, die arm genug sind, um ihn aufnehmen zu müssen. Wir können die Verantwortung auch nicht allein den Konzernen zuschieben, die mit der Atomenergie satte Profite gescheffelt haben (und das auch jetzt noch tun). Dass wir dies jahrzehntelang zugelassen und nicht gefragt haben, wie der Strom, den wir aus der Steckdose herausholen, dort hineingekommen ist, das ist unser Anteil. So viel an Größe, hierfür gerade zu stehen, müssen wir aufbringen!
„Sicherheit für 1 Million Jahre“: lächerlich!
Doch was bedeutet diese Verantwortungsübernahme im Konkreten? Die mit großem Aufwand verbreitete Behauptung, es sei möglich, eine Sicherheit für 1 Million Jahre zu schaffen, rückt die ganze Kampagne in eine Dimension der Unwahrheit. Denn eine solche Sicherheit gibt es nicht. Vor ungefähr 300.000 Jahren ist der homo sapiens entstanden. Konnte dieser sich auch nur im Entferntesten vorstellen, was 300.000 Jahre später aus ihm und der Erde werden würde? Wohl kaum. Doch die Endlagersucher behaupten, für eine Zeitspanne von 1 Million Jahre etwas voraussagen zu können. Es ist hybrid, absurd, lächerlich. Man versucht, durch eine gigantomanische Aussage Eindruck zu schinden. Ein menschliches Bauwerk, das 1 Million Jahre überdauern wird – wow! Dagegen verblassen die ägyptischen Pyramiden.
Energiewende in diesem Jahrzehnt ist Vorbedingung!
In der Realität haben wir es mit wesentlich kürzeren Zeitspannen zu tun. Wenn es nicht doch noch gelingen sollte, durch eine radikale Veränderung unserer Wirtschafts- und Existenzweise, zu verhindern, dass das Klima in die dann in keiner Weise mehr zu beeinflussende Selbstverstärkung kippt, wird fraglich, ob die Menschheit auch nur die nächsten 100 Jahre überlebt. Und wir wollen Vorkehrungen für 1 Million Jahre treffen?!
Alles hängt davon ab, dass wir im Verlauf der nächsten zehn Jahre den Weg in eine nachhaltige Daseinsweise einschlagen. Hierfür ist als allererstes die Umstellung der Energieerzeugung auf erneuerbare Energien entscheidend. Die Zustände, die durch weitere Klimaerhitzung in Richtung 4, 5 oder gar 6 Grad Celsius ausgelöst würden, wären chaotisch. „Rette sich, wer kann“ würde Motto des allgemeinen Verhaltens. Niemand wird sich da noch für eine sichere Lagerung des Atommülls interessieren. Auch für die Atommüll-Endlagerung ist also die Energiewende „conditio sine qua non“ (absolut notwendige Vorbedingung).
Ohne Energiewende bis 2030 keine Mitarbeit an der Standortsuche!
Diese Erkenntnis sollte in die Diskussion zur Endlagersuche eingehen. Die Initiativen, die zwecks Verhinderung der Lagerung an der einen oder anderen Stelle demnächst vermutlich in Erscheinung treten werden, sollten eine sachliche Mitarbeit an der Standortfindung davon abhängig machen, dass die Bundesregierung ihre Energiepolitik umgehend den Notwendigkeiten des Klimaschutzes anpasst: Das Vorhaben, die durch Atom- und Kohleausstieg entstehende Energielücke durch Erdgas-Importe zu schließen, muss sofort gecancelt werden. Durch Freisetzung von Kohlendioxid und zusätzlich von Methan ist Erdgas mindestens so klimaschädlich wie Kohle. Der Ausstieg aus den alten Energien macht nur Sinn, wenn die Lücke durch Erneuerbare Energien geschlossen wird. Andernfalls handelt es sich um den sprichwörtlichen Teufelsaustrieb durch Beelzebub. Folglich: im soeben begonnenen Jahrzehnt, also bis 2030, müssen alle Energiesektoren auf 100 Prozent Erneuerbar umgestellt werden. Das ist ein Quantensprung zur bisherigen Energiepolitik, aber – im Gegensatz zur Sicherheit für 1 Million Jahre – möglich.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat bereits 2011 – mit freudiger Bestätigung durch den BEE – das Jahr 2030 für 100 Prozent erneuerbaren Strom genannt. Tony Seba führt aus, dass durch disruptive Prozesse die komplette Energiewende bis dahin vollzogen sein kann. In den letzten Monaten haben etliche Organisationen der erneuerbaren Energien (etwa Metropolsolar, Bündnis Bürgerenergie, Solarenergie-Förderverein Deutschland, Deutsche Gesellschaft für Sonnenenergie, Energy Watch Group, Europäische Energiewende Community) die Jahreszahl 2030 als Richtschnur für das energiepolitische Handeln gesetzt.
Atommüll-Lagerung steht im Kontext der Zeitenwende
Der Atomausstieg läutet den Abschied von einer harten, natur- und lebensfeindlichen Epoche ein. Indem deren tödliche Überreste zu Grabe getragen werden, entsteht Raum für neue Lebendigkeit. Erster und grundlegender Schritt in diese Richtung ist der Umstieg in die erneuerbaren Energien. Nur wenn sichergestellt ist, dass dieser bis 2030 umfassend vollzogen wird, kann mit der Bereitschaft der Bevölkerung gerechnet werden, eine mögliche Unschädlichmachung der Folgen der Sünden der Vergangenheit konstruktiv zu begleiten. Die Endlagersuche ist kein isoliertes Problem. Sie steht im Kontext einer weltgeschichtlichen Umorientierung: weg von der Profitmaximierung als oberstem Prinzip, hin zu einer Wirtschaftsweise im Sinn des Gemeinwohls – des Gemeinwohls nicht nur der Menschheit, sondern aller Lebewesen und Gegebenheiten des Planeten. Nur wenn die Atommüll-Endlagerung als Bestandteil dieser Zeitenwende verstanden wird, kann sie erfolgreich sein. - Als Sofortmaßnahme sollten großspurige Behauptungen wie „1 Million Jahre“ eingestellt werden. Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Handeln nach bestem Wissen und Gewissen sind besser.