22.03.2019
130 km/h Autobahn-Tempolimit – Lösung oder Liebhaberei
Noch bis Anfang April läuft derzeit die Petition 89913 "Straßenverkehrs-Ordnung - Generelles Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen", mit der der Deutsche Bundestag aufgefordert werden soll zu beschließen: Auf deutschen Autobahnen wird ein generelles Tempolimit von 130 km/h eingeführt. Die Aktion geht auf die Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) zurück, und sie wäre hier nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht der erste und wohl zentrale Punkt der Begründung die Reduktion von CO2-Emissionen wäre. Dazu kommt ein buntes Sammelsurium weiterer Argumente, so dass man fast den Eindruck gewinnen könnte, nur ein fehlendes 130-Tempolimit stände zwischen uns und dem Verkehrsparadies.
Wie also sieht es mit einer CO2-Emissionsreduktion durch Tempo 130 aus? Grundsätzlich machen Autobahnfahrten ein Drittel des Straßenverkehrsaufkommens in Deutschland aus. Durch ein Tempolimit von 130 km/h würden CO2-Emissionen auf Autobahnen um rund 10% (hier gibt es leicht unterschiedliche Schätzungen) zurück gehen, was rund 2,5 Millionen Tonnen CO2 entspricht. Gegenüber den deutschen Emissionen von rund 905 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten/Jahr wäre das ein verschwindend geringer Sparbeitrag. Aber er ist vorhanden, und er wird auch von niemandem bestritten. Angesichts des völligen Scheiterns der deutschen Politik beim Klimaschutz kann man sogar völlig zu Recht argumentieren, dass auch kleine, schnell umsetzbare Maßnahmen zur CO2-Emissionsreduktion notwendig seien, wenn sie „alternativlos“ sind. Bevor wir jedoch zu möglichen Alternativen kommen, lohnt ein Blick auf die weiteren Argumente der EKM:
Ein Tempolimit sorgt für einen gleichmäßigeren Verkehrsfluss, so dass weniger Staus entstehen: Staus entstehen, wenn die Kapazität einer Autobahn (Fläche) nicht ausreicht, um das aktuelle Verkehrsaufkommen abzuwickeln. Staugefährdete Autobahnabschnitte sind bereits heute in den meisten Fällen mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung oder einem Geschwindigkeitsmanagement versehen; da hilft kein allgemeines Tempolimit.
Durch das Tempolimit können Kosten beim Bau von Autobahnen und für deren Unterhalt gespart werden: Die Bau- und Unterhaltskosten werden vor allem durch die Achslast großer LKWs negativ beeinflusst, d.h. ein LKW schadet so viel wie ca. 10.000 Autos. Güter gehören deshalb auf die Bahn oder aufs Binnenschiff. Ein Tempolimit hilft da gar nicht.
Das Tempolimit mindert das Lärmaufkommen und den Reifenabrieb: Auf Autobahnen in Wohngebieten herrscht bereits jetzt ein geringeres Tempolimit bzw. ein Geschwindigkeitsmanagement; zudem gibt es Lärmschutzwände. Außerorts liegen Autobahnen abseits von Siedlungen, so dass sie weniger Lärm emittieren als z.B. die näher liegende Landwirtschaft. Zudem ist die gleichmäßige Geräuschkulisse schneller Wagen weniger störend, wie auch der Reifenabrieb dieser Fahrzeuge geringer ist als beim Ampelstart, bei schneller Kurvenfahrt und scharfem Bremsen vor dem Zebrastreifen.
Das Tempolimit erhöht die Verkehrssicherheit, so dass die Zahl der Unfälle und der Verkehrstoten zurückgeht: Dieses in der Pro-130km/h-Diskussion immer wieder gern verwendete Argument ist bis heute völlig unbewiesen. Vergleiche zwischen Autobahnabschnitten ohne und mit Tempolimit helfen da wenig, weil letztere sich eher im staugeplagten Weichbild der Großstädte befinden, und ein tödlicher Unfall zwischen zwei Autos bei Stop-and-Go quasi unmöglich ist. Auch müssten bei einer statistischen Auswertung alle diejenigen Unfälle herausgerechnet werden, die sich bei Geschwindigkeiten unter 130 km/h ereignen, die auf grobe Fahrlässigkeit (unangepasste Geschwindigkeit, Alkohol, etc.) zurückgehen oder generell nicht vermeidbar waren. Das ist kaum möglich, und so bleibt es hier bei einer Glaubensfrage.
Ein Tempolimit erhöht den Zeitaufwand nur geringfügig und mindert den Fahrspaß von Geschwindigkeitsliebhabern: Der Zeitaufwand hängt von der Streckenlänge, Uhrzeit etc. ab; ob die Erhöhung „geringfügig“ ist, entscheidet der betroffene Fahrer. Dass es für ein Tempolimit spreche, dass dieses den „Fahrspaß von Geschwindigkeitsliebhabern“ vermindere, ist ein ziemlich krudes und oberlehrerhaftes Argument. Schließlich ist das Bedürfnis nach schneller Bewegung, wie es auch Läufer auf Sprintstrecken, Rennrad- und Bob-Fahrer, Katamaransegler und viele mehr ausleben, grundsätzlich völlig legitim. Mag auch dieses Bedürfnis von vielen nicht geteilt werden, so gehört es doch heute zum freiheitlich-demokratischen Konsens, dass man die Rechte von Minderheiten nicht ohne vernünftigen Grund einschränkt. Dass im Geltungsbereich des Grundgesetzes klerikale Sittenpolizisten und Moralzensoren, die einstmals auch das öffentliche Küssen und Tanzen am Sonntag beschränkten, keinen Platz mehr haben, sollte selbst der EKM deutlich sein.
Entschleunigung auf Autobahnen schafft ein stressärmeres Fahren insbesondere für die zunehmende Anzahl älterer Menschen und damit einen Gewinn an Lebensqualität: Wem Autobahnen zu schnell sind, der kann die Landstraße nehmen oder sich ausschließlich auf der rechten Autobahn-Spur aufhalten. Wer auch dort noch durch das schnelle Vorbeiziehen anderer Fahrzeuge geängstigt ist – was auch an Autobahnabzweigungen bei Stau passieren kann, während die linke Spur freie Fahrt hat –, der sollte doch besser die Bahn benutzen.
Deutschland ist das einzige Land in der Europäischen Union ohne generelles Tempolimit auf Autobahnen: In mehr als der Hälfte der Mitgliedsstaaten gilt ein Tempolimit von 130 km/h.
Deutschland ist auch das einzige EU-Land mit einer so ausgeprägten föderalen Struktur und einem so freiheitlichen Asylrecht – dennoch sind diese Sonderstellungen kein Grund für ihre Abschaffung.
Wenngleich die meisten o.a. Begründungen der EKM sachlich ohne Substanz sind, und sich eher auf eine Entschleunigungs-Ideologie bzw. Gouvernementalität im Foucaultschen Sinne zurückführen lassen, so besteht doch das Argument der CO2-Einsparungen, auch wenn diese noch so gering sind, unangefochten. Bleibt die Frage nach möglichen Alternativ-Lösungen!
In der Diskussion um die Umsetzung des Pariser Abkommens fällt immer häufiger das Stichwort „Klimagerechtigkeit“. So schlug der Berliner Mobilitäts-Soziologe Andreas Knie im vergangenen August vor, den klimaschädlichen Flugtourismus auf maximal drei Flüge pro Jahr und Mensch zu rationieren. Zeitlich vor oder parallel zur Einführung einer CO2-Steuer ließe sich auch im Verkehr eine Art Rationierung durchführen, und zwar in Form einer Autotypen-gebundenen Höchstgeschwindigkeit, die sich vor allem am Gewicht der Fahrzeuge und damit am Energieverbrauch orientiert. Diese könnte bei den Autobahn-Höchstgeschwindigkeiten etwa so aussehen:
Fossile Transporter und schwere SUVs bis 110 km/h, große Limousinen bis 120 km/h, kleine Limousinen und Sportwagen bis 130 km/h, fossil getriebene Motorräder bis 140 km/.
Schon hier wäre der Einspareffekt höher als bei pauschalen 130 km/h, da besonders die schweren, viel verbrauchenden Fahrzeuge in ihrer erlaubten Höchstgeschwindigkeit deutlich herabgesetzt würden. Zwar könnte man auch die CO2-Werte nach dem WLTP-Testzyklus nehmen, doch dieses würde z.B. große Elektro-SUVs unangemessen bevorzugen. Diese haben zwar beim Fahren keinen CO2-Ausstoß, beziehen aber ihre Energie hauptsächlich aus dem Graustrom des Strommixes des öffentlichen Stromnetzes, weil sich Akkukapazitäten >60 kWh kaum aus der heimischen PV-Dachanlage versorgen lassen, selbst wenn eine solche vorhanden ist. Kleinere Fahrzeuge lassen sich jedoch durchaus fast ausschließlich mit Dachanlagen laden. Daher sehe eine Fortschreibung der o.a. Höchstgeschwindigkeiten etwa so aus: schwere E-SUVs bis 140 km/h, große E-Limousinen bis 150 km/h, kleine E-Limousinen und E-Sportwagen bis 170 km/h, E-Motorräder bis 180 km/h. Für Solarautos, die ihren Strom überwiegend von der eigenen Außenhaut beziehen, gäbe es gar keine Geschwindigkeitsbegrenzung.
Gegenüber dem pauschalen 130 km/h ergäben sich einige Vorteile:
1. eine Versachlichung der Diskussion über das Verkehrsthema und die Entwicklung nachhaltiger Lösungen – jenseits von Autofetischismus einerseits und Entschleunigungs-Ideologie andererseits. Geschwindigkeitsbegrenzungen sind so nicht mehr willkürlich, sondern klimapolitisch begründet; Autokäufer und Fahrer großer, energie- und emissions-intensiver Fahrzeuge werden in die klimapolitische Verantwortung eingebunden.
2. eine Umkehrung der Tendenz zu immer größeren, schwereren Fahrzeugen (= weniger Energie-, Rohstoff- und Flächen-Verbrauch). Künftig muss stärker die Frage im Vordergrund stehen, zu welchen individuellen Zwecken ein Auto dienen soll (z.B. Stadtwagen, Transport- oder Sport- oder Gelände-Fahrzeug). Das große – und damit naturgemäß schwere – Allzweckfahrzeug in Form eines SUVs, den man dann noch prestigeträchtig „vergoldet“ und künftig möglichst auch noch das Fliegen beibringt, hat angesichts der zunehmenden Energie- und Ressourcenknappheit in der Welt keine Zukunft mehr.
3. wird die Autoindustrie gezwungen, auch aus Prestigegründen die Fahrzeugantriebe schneller zu dekarbonisieren. Dabei soll sie nicht nur den Antriebsstrang elektrifizieren, sondern auch über Energie-Eigen-Erzeugungs-Einheiten (z.B. PV-Module) am Fahrzeug nachdenken. Einige Hersteller haben bereits damit angefangen.
Die o.a. Vorteile sind letztlich Steuerungselemente für eine beschleunigte Verkehrswende auf den Straßen, und nicht nur ein kurzatmiges verkehrspolitisches Bremsmanöver wie „Höchstgeschwindigkeit 130 km/h“. Je bedrohlicher der Klimawandel wird, desto mehr brauchen wir Maßnahmen, die – frei nach den Grundsätzen der Permakultur – positive Mehrfachauswirkungen haben, und nicht nur Scheinlösungen darstellen.