19.07.2019
Von der Leyen: Viel heiße Luft, wenig Konkretes
Am frühen Dienstag-Abend bestimmte das Europaparlament mit einer recht knappen Mehrheit von 383 Stimmen die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur neuen Präsidentin der EU-Kommission. Die Abstimmung war geheim und daher bleibt unklar, aus welchen Kräften sich diese Mehrheit zusammensetzt. Neben den 182 Christdemokraten gehörten mit ziemlicher Sicherheit die Liberalen und Macronisten zu ihren Unterstützern, darunter die Stimmen der deutschen FDP. Von den restlichen etwas über 90 Stimmen scheinen die Meisten aus der 153-köpfigen sozialdemokratischen S&D-Fraktion gekommen zu sein. Ob die 16 deutschen und die fünf österreichischen Sozialdemokraten tatsächlich, wie angekündigt, gegen die CDU-Politikerin gestimmt hatten, wird wohl deren Geheimnis bleiben.
In den kurzen zwei Wochen „Wahlkampf“, in denen Ursula von der Leyen durch so ziemlich alle Brüsseler Fraktionen tourte, machte sie sich nahezu überall Liebkind und versprach den politischen Konkurrenten wie den eigenen Parteigänger so ziemlich alles, was diese hören wollten. Manche kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Man kann davon ausgehen, dass politische Positionen, die nach außen kommuniziert wurden, nicht alles gewesen sein dürften, was vereinbart wurde. Entsprechend wenig Konkretes lässt sich daher bis jetzt über den zu erwartenden politischen Kurs der ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin sagen. Werfen wir einen Blick auf die Energie- und Klimapolitik.
Hier trug sie mit ihren Versprechungen besonders dick auf. „Deshalb werde ich in den ersten 100 Tagen meiner Amtszeit einen „Green Deal für Europa“, eine ökologische Wende unserer Gesellschaft, vorschlagen. Gleichzeitig werde ich das erste Europäische Klimaschutzgesetz überhaupt einbringen, das die Ziele für 2050 in Recht gießt“, erklärte von der Leyen. Fasst man zusammen, was sie zur Klima- und Energiepolitik „konkretisiert“ hat, so sind das folgende Punkte:
- Reduzierung der Treibhausgase bis 2030 um bis zu 55% im Vergleich zum Jahr 1990; derzeit sind lediglich 40% geplant
- Klimaneutralität bis spätestens 2050; das Ziel soll innerhalb der ersten 100 Tage nach ihrem Amtsantritt EU-weit festgeschrieben werden
- Start einer globalen Initiative für ambitionierte Klimaschutzziele
- Erweiterung des EU-Emissionshandels
- Einführung einer Kohlendioxid-Steuer, die EU-Unternehmen vor Konkurrenz aus Ländern mit weniger ambitionierten Klimazielen schützt
- Einrichtung eines Fonds, der Wirtschaftszweige und Regionen bei notwendigen Übergangsprozessen unterstützt
- Gründung einer europäischen Klimabank aus Teilen der Europäischen Investitionsbank (EIB)
- Vorlage eines Vorschlags für einen Investitionsplan für ein nachhaltiges Europa
Das klingt ambitioniert und sehr umfassend. Auch die Metapher vom „Green Deal“ lässt einige, nicht nur interessengesteuerte, Köpfe wie besoffen jubeln. Interessanterweise gehören die deutschen Grünen im Europaparlament nicht dazu. Liest man die Punkte genauer und untersucht sie auf ihre Machbarkeit, so blättert der Lack vom Hochglanzprodukt Green Deal der Ursula von der Leyen schnell ab. Einmal abgesehen davon, dass die Macht der neuen Präsidentin der EU-Kommission gegenüber den nationalen Regierungen beschränkt ist, dürften schon beim ersten Punkt, der Reduzierung der Klimagase bis 2030 um 55 Prozent, die ersten Zweifel aufkommen. Wie soll gerade Deutschland, das seine Klimaziele krachend verfehlt hat und ohne Konzept für eine Trendwende dasteht, die Zahlen schaffen?
Von der Leyen war bis eben Mitglied einer Bundesregierung, die alle Hebel in Bewegung setzt, die alten Dreckschleudern in der Energiewirtschaft am Leben zu erhalten: Kohleausstieg bis 2038, Deckel auf den Erneuerbaren, Ausbau der Gasinfrastruktur, ein Regelwerk zur Behinderung der Erneuerbaren, undurchdringbarer als die Berliner Mauer. Wer glaubt, dass diese Koalition ihre Politik ändert, nur damit die von der neuen EU-Kommissarin ausgegebenen Werte erreicht werden? Dem stehen gegenläufige wirtschaftliche Interessen der kohlenstoffbasierten Industrien entgegen und Heerscharen von Lobbyisten, die einem Green Deal eine andere Farbe verpassen werden.
Reflektiert man als zweites Beispiel die neue Lieblingsmetapher von Kanzlerin Merkel, die „Klimaneutralität bis 2050“, die von der Leyen übernommen hat, stößt man auf Klimafakten, die dem entgegen stehen. Dass schon zu viele Emissionen in die Atmosphäre gelangt sind, bzw. sich auf dem Weg dorthin befinden, als dass eine Treibhausgasreduktion, die 2050 "Klimaneutralität" erreicht, die Klimakrise bereinigen oder auch nur dämpfen könnte, ist ein politischer Taschenspielertrick. Man möchte wissen, was – nach der Verhinderung der Energiewende – da nun alles drinstecken soll. Kein Neubau von Häusern, keine Massenproduktion von Elektroautos als Ersatz für „unmoderne“ Verbrenner? Eine Abkehr von der emissionstreibenden Wachstumspolitik neoliberaler Prägung? Es bleibt der Eindruck, die Metapher ist eine Nebelbombe und verschleiert ein „weiter so“. Wie die Europäer mit dem überbordenden Kohlenstoffgehalt, wozu auch das neuerdings stark ansteigende Methan gehört, umgehen soll, bleibt offen. Nicht mal der Ansatz eines Konzeptes findet sich.
Klar ist nur, der Machtpoker mit den nationalen Regierungen und vor allem den Lobbyisten ist nicht vorbei. Im Gegenteil, nach dem Amtsantritt beginnt der erst richtig. Dann startet verschärft das Ringen um das, was im Heiligen Römischen Reich die "Wahlkapitulationen“ genannt wurde. Es war Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, der kurz vor der Wahl diesen netten Vergleich zwischen 1519 und 2019 einbrachte. Damals, so Prantl, wurden den künftigen römisch-deutschen Kaisern von den Kurfürsten sogenannte Wahlkapitulationen vorgelegt, in denen die Regeln für die künftige Herrschaft festgelegt wurden. Diese hatten zwar nichts mit Kapitulation im heuten Wortsinn zu tun, sondern meinten einfach die Kapiteleinteilung der umfangreichen Urkunden. Aber darin ging es stets knallhart und präzise um die Kompetenzen gegenüber den nationalen Regierungen, pardon, den Kurfürsten. Man denkt unwillkürlich an Victor Orban und andere „Kurfürsten“, die mit Klimaschutz herzlich wenig am Hut haben.
Klaus Oberzig