10.06.2022
Niederlande in Bewegung
Ein Essay von Götz Warnke
Nein, wir wollen uns hier nicht mit den problematischen Landsenken durch die Gasförderung bei unserem westlichen Nachbarn befassen. Die gibt es natürlich auch; sie sind – gerade in einem Land, das schon jetzt zu einem Gutteil tiefer als der Meeresspiegel liegt – wichtig, aber hier nicht Thema. Es geht hier um den neben Strom und Wärme wichtigen dritten Sektor, den Verkehr.
Das für die Niederlande bezeichnende und ihre Entwicklung prägende Verkehrsmittel ist – nein, das kommt später – das Schiff. Die Seeschifffahrt hat das Land zur Handelsnation gemacht, im 17. Jahrhundert zur mit England konkurrierenden Großmacht aufsteigen lassen, und zu verschiedensten Innovationen geführt: von frühen Tauchbooten bis zu geschliffenen Linsen und Fernrohren, die dann für die Astronomie (Galilei) und, in anderer Zusammensetzung, als Mikroskop für Botanik und Medizin genutzt wurden. Kein Wunder, dass Rotterdam heute der größte europäische Seehafen ist.
Aber der Seehandel hatte noch eine andere Dimension: er brachte neue Produkte, Menschen, Ideen und Rhythmen ins Land. Die Handelsschifffahrt befreite nicht nur vom jahreszeitlich-zwanghaften der landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften: Händler können sich die Überzeugungen und religiösen Einstellungen ihrer Geschäftspartner nicht aussuchen; in Übersee müssen meist sie mit völlig anderen Kulturen, Weltbildern etc. zurechtkommen. Dies führte in den Niederlanden auch zu mehr geistiger Offenheit, Toleranz und Freiheit. Kein Wunder, dass die Niederlande seit dem frühen 17. Jahrhundert Glaubensflüchtlinge aller Konfessionen aus ganz Europa aufnahmen. Und während in Deutschland Synagogen brannten, galt z.B. die sephardische Synagoge in Amsterdam als „Weltwunder“, die sogar vom König besucht wurde. Unabhängigkeit und Freiheit, die immer wieder verteidigt werden mussten, sind den Niederländern bis heute wichtig.
Bei aller Bedeutung der Seeschifffahrt darf aber auch die Binnenschifffahrt nicht vergessen werden. Sie verteilt die importierten Waren im Lande und sammeln die einheimischen Exportprodukte ein, um sie zu den Seehäfen oder ins europäische Binnenland zu exportieren. Und das tun sie energieeffizienter als jedes Eisenbahnsystem. Damit dies auch künftig so bleibt und sogar klimagasfrei geschieht, baut man im Lande gerade ein Wechselakkusystem für Binnenschiffe auf.
Ja, natürlich hat auch das Fahrrad einen zentralen Platz in der Verkehrskultur unserer Nachbarn. Dieses ursprünglich hölzerne Ersatzpferd, das die Welt erblickte, weil nach der Tambora-Explosion und dem Jahr ohne Sommer 1816 die meisten Pferde Europas in die Fleischtöpfe gewandert waren, verbreitete sich in den flachen Niederlanden besonders. Gründe waren u.a. die auf dem Lande neben den geraden Kanälen vorhandenen Treidelpfade, die sich, zumindest nach damaligen Ansprüchen, fürs Radfahren eigneten, sowie in den wachsenden, durch die Kanäle zusätzlich beengten Städten die Möglichkeit, schnell größere Strecken zurück zu legen.
Denn die Fahrradkultur ist in den Niederlanden eine ganz andere als in Deutschland. Zwischen Maastricht und Groningen wächst man mit dem Fahrrad auf; durch das lebenslange Fahrradfahren haben die Niederländer hier eine hohe Geschicklichkeit, Kompetenz und Routine. Viele besitzen sogar mehrere Fahrräder, z.B. eines für die Fahrt von der Wohnung zum Einsteigebahnhof, und eines für den Weg vom Zielbahnhof ins Büro. Fahrräder gehören zum Leben; sie sind ein Alltagsgegenstand und kein Repräsentationsobjekt, dem man den Preis unbedingt ansehen muss. Es gibt eine Vielzahl von Zwei- und Dreiradtypen: Fahrrad, Pedelec, Lastenrad, Lastentrike, Moped – ja, letztere dürfen sogar Fahrradwege benutzen, was in Deutschland wohl zu einem Aufschrei aller Gutmenschen führen würde. Was man allerdings selbst in den Metropolen mit ihren ausgezeichneten Radwegen relativ selten sieht, sind Rennräder. Das dürfte einen einfachen Grund haben: in den Niederlanden fahren die meisten Radfahrer so (ältere teilweise ausgenommen), als gälte es einen Grand Prix zu gewinnen. Kaum ist die Ampel grün, rasen alle los. Ja, es wird gerast, wie jede deutsche Meditations- und Feldenkraisgruppe erschreckt feststellen würde; der freie Holländer lässt sich grundlos kaum reglementieren. Die über Jahrzehnte erlernte Geschicklichkeit, Kompetenz und Routine lassen den Fietsen-Fahrer selbst in größeren Fußgängerpulks den slalomhaften Weg hindurch finden. Wer z.B. an der Seite einer Fußgängerzone einen großen Platz betreten will, sollte sich nicht wundern, wenn er im schmalen Raum zwischen Hauswand und eigenem Körper plötzlich ein fremdes Vorderrad entdeckt: Nein, das ist kein Überfallversuch, sondern ein Radfahrer, der darauf lauert, gleich gewaltig in die Pedale zu treten. Fahrradfahren ist in den Niederlanden eine Form der Verkehrsbeschleunigung; die Masse der holländischen Radfahrer dürfte deutschen Entschleunigungsideologen nur mit Kopfschütteln begegnen.
Vielleicht ist es gerade diese nüchtern-sachliche, pragmatische Fahrradkultur, die deutsche Zweirad-Lobbyisten und -Politiker lieber zum geistig verwandteren Dänemark blicken lässt.
Die Bahn ist, historisch gesehen, das nächste Verkehrsmittel, das die Niederlande erreichte. Heute gibt es im Lande ca. 400 sehr verschiedene Bahnhöfe. Vom größten, Amsterdam Centraal, erreicht man in je zwei Stunden Maastricht im Süden und Groningen im Norden sowie, mit mehr Geduld, auch viele europäische Metropolen. Überraschend, aber durchaus pragmatisch ist, dass die Bahn der Fahrradnation die Fahrradmitnahme auf die Zeiten außerhalb der Hauptverkehrszeit beschränkt. Und auch in anderen Bereichen lässt man sich von political correctness nicht das Handeln bestimmen: Amsterdam Centraal ist ein closed shop, in dessen Hauptteil nur Menschen mit Fahrkarten hineinkommen – Menschen ohne Fahrkarten wie Obdachlose, Landstreicher und insbesondere Taschendiebe müssen draußen bleiben. Da mögen andere „Ausgrenzung“ schreien, doch die Niederländer sind freiheitsorientiert, aber nicht unkritisch angepasst. Das gilt hier wie auch in anderen Bereichen: zwar ist man liberal z.B. hinsichtlich von Drogen, aber wer in Großstädten als Wildpinkler auftritt oder mit seinem Verbrenner E-Auto-Parkplätze besetzt, ist schnell mit 100 Euro dabei – da helfen keine wortreichen Entschuldigungen wie Unwissenheit oder eine schwere Jugend. Neben wenigen Metrosystemen in den Großstädten wie Amsterdam und Rotterdam gibt es ein u.a. auch hier ein dichtes Netz von Straßenbahnen – der klimafreundlicheren Alternative der in Beton gegossenen Metros. Viele Straßenbahnen, z.B. in Amsterdam, haben neben dem Fahrer auch noch einen Kontrolleur; auch hier gilt: wer kein Ticket hat, muss draußen bleiben.
Und ja, es gibt sie, die normalen Autos in den Niederlanden. Nicht nur die auf deutschen Straßen so unbeliebten, und an gelb-schwarzen Nummernschildern leicht erkennbaren niederländischen Wohnmobile („Siehst Du schwarz auf gelbem Grund, gebe Gas und bleib gesund!“). Die Niederlande waren einst eine Nation mit eigener Autoindustrie (DAF-PKWs bis 1975). Und sie wollen wieder eine werden: z.B. mit Solarautos wie dem Lightyear One oder mit Leichtmobilen wie dem Carver. Und sie haben u.a. mit der Mobile-Abteilung der TU Eindhoven, die bereits mehrere Solarrennen in Australien gewann, hervorragende Ingenieure abseits des automobilistischen Mainstreams. Ansonsten spielt das Auto in diesem dicht besiedelten Land eine deutlich untergeordnetere Rolle als in Deutschland. Wo die Verkehrsstruktur zu autozentriert ausgebaut ist wie z.B. in Rotterdam, wird das korrigiert; andererseits werden die Autos auch nicht grundsätzlich aus Innenstädten verbannt. Wahrscheinlich setzt man auf einen zügigen Umstieg auf die schon deutlich verbreiteten E-Autos bzw. -Leichtfahrzeuge; immerhin haben die Niederlande eines der dichtesten Ladesäulennetze Europas. Auch die andernorts hochemotional geführte Debatte über Geschwindigkeitsbeschränkungen wird hier pragmatisch gehandhabt: Weil die Verbindungen meist kurz sind, und niemand nach einem Sturm die von der Fahrbahn abgekommene Autos aus Äckern und Kanälen fischen will, galt bisher 130 km/h als Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen. Da der Staat auf Grund eines Gerichtsurteils die Klimagasemissionen beschränken muss, hat man die Höchstgeschwindigkeit – wenngleich umstritten – auf 100 km/h herunter gesetzt.
Andererseits beschleunigt man seit Jahrzehnten den Autoverkehr durch den verbreiteten Bau von Kreisverkehren, die durchaus weniger kosten- und energieaufwändig sind als Ampelkreuzungen.
Wem das alles zu langsam ist, der setzt auf das traditionelle Strandsegeln z.B. in Wijk aan Zee: dort sind 140 km/h drin – und es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung.