10.03.2023
Dokumentarfilm „Der laute Frühling“
Eine Filmrezension von Tatiana Abarzúa
In einem Interview im Film sagt Julia Steinberger, eine Professorin für ökologische Ökonomie: „Wir beschleunigen in die falsche Richtung“. Dieser Satz bringt die aktuelle gesellschaftliche Situation auf unserem Planeten perfekt auf den Punkt. Angesichts der Klimakrise und der dem Kapitalismus inhärenten Profitmaximierung und Ressourcenausbeutung. Und angesichts des Wissens darüber und der bisher ausbleibenden Lösung der Krise. Der Film von Johanna Schellhagen (Buch, Regie und Produktion) dreht sich genau um diese Frage.
Es braucht 3,5 Prozent der Bevölkerung für eine Revolution. Das zeigen Forschungsergebnisse von Erica Chenoweth, die Proteste zwischen 1900 und 2006 untersucht hat. Vermutlich war den an der Filmproduktion beteiligten das Studienergebnis bekannt. Denn inhaltlich geht es um eine Revolution.
Im Trailer zum Film kommt deutlich Kritik an den Klimakonferenzen zur Sprache: Die Treibhausgase sind in all diesen Dekaden gestiegen, die Staatenlenker:innen haben nur zugeschaut, „wie die Welt zerstört wird“. Das kurze Trailervideo verspricht, dass der Film einen Blick auf eine Gesellschaft liefert, die fähig ist, Lösungen für die Klimakrise umzusetzen. Und argumentiert, dass der Wille für Veränderung auf der Welt immer größer werde. Auch wenn, bisher weder Klimademos noch Aufstände es geschafft hätten, „einen Kurswechsel herbeizuführen“.
Der Film löst dieses Versprechen ein. Er bietet konstruktive Denkanstöße und skizziert wie ein Systemwandel aussehen kann. Daher passt der Untertitel „gemeinsam aus der Klimakrise“ gut zum Film. Der erste Teil des Films besteht aus Interviews. Etwa mit Wissenschaftler:innen wie die eingangs erwähnte Julia Steinberger, Hauptautorin für den 6. Sachstandsbericht des IPCC in der Arbeitsgruppe 3 und Expertin für den interdisziplinären Bereichen Ökologische Ökonomie und Industrieökologie. Es wurden auch Gewerkschafter:innen (u.a. AngryWorkers-Kollektiv) und Klimaaktivist:innen (Ende Gelände, Extinction Rebellion und Fridays for Future) interviewt.
Beim Film handelt es sich um ein Hybridformat aus dokumentarischem Material und Animation. Dieses Genre, dass Elemente aus einem Dokufilm mit Animationstechnik kombiniert, wird auch als Animadok bezeichnet. Die Illustrationen sind von Lee Lai, einer Zeichnerin von Graphic Novels. Der Animationsteil des Films ist „spekulative Fiktion“ und spielt in einer sehr nahen Zukunft. Das konkrete Datum sei an dieser Stelle nicht genannt, damit der Spannungsbogen erhalten bleibt für die Leser:innen, die sich den Film anschauen möchten.
Der Film wird nun in verschiedenen Kinos in der internationalen Fassung gezeigt, das heißt mit englischen Untertiteln. Termine aktueller Filmvorführungen sind auf der Website verfügbar, auch für Österreich und Italien.
Vergangenes Jahr wurde er in der deutschen Originalfassung gezeigt, unter anderem in Klimacamps. Er erhielt viel Medienresonanz (unter anderem hier und dort). In der internationalen Fassung ist er nun einer größeren Öffentlichkeit zugänglich.
Aktuelle Entwicklungen bestätigen den Blick, den der Film auf unsere Gesellschaft wirft, und auf die Herausforderungen der Zeit, in der wir jetzt leben. Beispielsweise fanden in letzter Zeit Streiks in Großbritannien, Italien und auch in Deutschland statt – „Nach 1974 und 1994 kann das Jahr 2023 als dritter bundesweiter Streik im öffentlichen Dienst Deutschlands Geschichte schreiben.“
Bei einem Filmgespräch nach einer Filmvorführung im Berliner Lichtblick-Kino, sagten mehrere Zuschauer:innen, dass sie nicht glauben, dass es im realem Leben so ausgehen wird wie im Film skizziert. Die Gesellschaft sei viel zu gespalten, so die Kritik. Die Regisseurin Johanna Schellhagen sagte darauf hin, dass sie die Erfahrung gemacht hat, dass der Film unterschiedlich aufgenommen wird, je nachdem zu welcher Schicht sich das Publikum zählt und je nachdem welchen Beruf man selbst ausübt.
Eine Zuschauerin äußerte die Meinung, dass der Film die herrschende Repression unterschätze. Schellhagen verneinte das nicht und gab zu verstehen, dass es Absicht des Filmes ist, eine optimistische Antwort auf die Klimawandelfrage zu geben. Die Animationsbilder im Film beruhen auf einer Vielzahl von tatsächlichen ausgetragenen Arbeitskämpfen, erklärt Schellhagen. Auf Nachfrage teilt sie mit, dass der Radiosender Platón, der hier gezeigt wird, in Mexiko zum Einsatz kam. Mitglieder der DGS News-Redaktion sind sehr gespannt, ob er Anstoß sein wird für neue Debatten.
In eigener Sache: Über die Themen, die in den Interviews angeschnitten werden, haben die DGS-News bereits öfters berichtet. Etwa über die Tatsache, dass wir bereits das Temperaturspektrum des Holozäns verlassen haben, und die Tatsache, dass wir jeden Tag auf der ganzen Welt Wettersituationen haben, „die es ohne die zusätzliche CO2-Menge in der Atmosphäre nicht geben könnte" (hier und dort). Oder die Erkenntnis, dass der atmosphärische CO2-Gehalt vergleichbar ist „mit der Warmperiode im mittleren Pliozän vor etwa 3,6 Millionen Jahren, als die Kohlenstoffdioxidkonzentrationen zwischen 380 und 450 ppm lagen."
Anmerkung der Redaktion: Der Titel „Der laute Frühling“ ist womöglich eine Anspielung auf das Buch "Silent Spring" von Rachel Carson, einem der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Rachel Carson wurde im Jahre 1980 postum mit der Presidential Medal of Freedom, der höchsten zivilen Auszeichnung der USA, ausgezeichnet (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_stumme_Fr%C3%BChling)