02.04.2021
Ebbe bei der Gezeitenkraft
Ein Bericht von Götz Warnke
Die Damen und Herren EU-Kommission mit Ursula von der Leyen an der Spitze müssen sich wie eine Braut gefühlt haben, deren Mann in spe nicht zur Hochzeit erscheint. Zumindest wenn es um die Meeresenergie geht. Denn hier hat die EU große Zukunftsträume: 2030 sollen es bis zu 3 Gigawatt (GW) installierte Leistung sein, und 2050 sogar 60 GW - hauptsächlich Gezeitenenergie und deutlich weniger Wellenkraft. Und ausgerechnet jetzt hat sich mit dem Brexit Großbritannien aus der gemeinsamen Partnerschaft verabschiedet, oder besser gesagt: Wales.
Denn gerade in diesem Teil des vereinigten Königreichs sind das Potential groß und die Ambitionen gewaltig: Wales möchte bei dieser Technik Weltmarktführer werden. Die natürlichen Potentiale dafür sind jedenfalls gegeben bei einem Land, das in drei Himmelsrichtungen an den Atlantik grenzt. Und wie eine Vielzahl an Projekten zeigt, scheint man staatlicherseits entschlossen, diese Potentiale auch konsequent zu heben:
Im Norden
Ganz im Nordosten, im 19 km langen und 8 km breiten Mündungsgebiet der Dee, soll zwischen dem Hafen von Mostyn und dem nördlich davon gelegenen Point of Ayr eine 6,5 km lange und zwei Meter hohe Mauer aus Felsbrocken und Zuschlagstoffen, die die Meeresbucht abtrennt, errichtet werden. In die Staumauer werden nicht nur zwei Turbinenhäuser mit insgesamt acht 16-Megawatt-Turbinen integriert, sondern auch drei Schleusentore für den Hafen von Mostyn. Das Projekt soll nach Fertigstellung jährlich 298 Gigawattstunden (GWh) Strom aus dem Tidenhub der Dee-Mündung generieren.
Im Nordwesten, vor der Küste der Insel Anglesey bei Holyhead soll das Morlais-Projekt entstehen, hinter dem das walisische Sozialunternehmen Menter Môn steht. Auf 35 Quadratkilometern Meeresfläche sollen sowohl schwimmende als auch auf dem Meeresboden stehende Turbinen die Energie des Gezeitenstroms abernten. Vollständig ausgebaut, soll die installierte Leistung 240 MW betragen.
Im Westen liegt die Insel Ramsey mit dem Ramsey Sund; hier herrschen insbesondere bei den Felseninsel "The Bitches" so hohe Strömungsgeschwindigkeiten, so dass man sogar von Gezeiten-Wasserfällen (tidal waterfalls) spricht. Seit 2015 existieren hier ein Gezeitenkraftwerk und noch deutliche größere Ausbaupläne.
Im Süden
Ganz im Südosten an der Mündung des Severn, zwischen Cardiff in Wales und Bristol in England, war das riesige Gezeitenkraftwerk Severn Barrage geplant: Je nach Lokalisierung des Damms sollte das Projekt eine installierte Leistung zwischen 1 GW und 15 GW haben - zum Vergleich: das Atomkraftwerk Brockdorf an der Elbe kommt aus 1,5 GW. Wegen der hohen Kosten und der z.T. nicht absehbaren Auswirkungen auf Umwelt und Häfen ist das Projekt derzeit zum Erliegen gekommen.
Etwas weiter westlich liegt das Projekt Swansea Bay, das eine installierte Leistung von 320 MW erreichen soll. Das Besondere: es handelt sich hier um ein Lagunen-Projekt, d.h. eine durch einen mit Turbinen bestückten Damm von allen Seiten umschlossene Wasserfläche. Auch dieses Großprojekt liegt derzeit auf Eis, weil es durch die britische Regierung mitfinanziert werden müsste, die jedoch lieber das Atomkraftwerk Hinkley Point vorziehen will.
Dennoch gibt es an der gesamten Küste von Wales viele Standorte mit unterschiedlichem Potential, von denen längst nicht alle auf finanzielle Unterstützung der Regierung angewiesen sind. Und selbstverständlich gibt es auch in Nordirland, Schottland und England einzelne Anlagen sowie noch mehr Potential. Doch bemerkenswert ist noch etwas anderes: Während im Deutschen die Gezeitenenergie kaum untergliedert wird und man allenfalls noch den falschen Begriff Meeresströmungskraftwerk verwendet (echte Meeresströmungen wie der Golfstrom, Kanarenstrom etc. lassen sich nicht technisch nutzen) - , kennt der englische Begriff "Tidal Power" die Untergliederung in Tidal stream generator/Gezeitenstromgenerator, Tidal barrage/Gezeitensperrwerk, Dynamic tidal power (DTP)/Dynamische Gezeitenkraft in Form von "Gezeitenzäunen", sowie Tidal lagoon/Gezeitenlagunen. Es ist ähnlich wie bei den Eskimos, die auch mehrere Begriffe für Schnee haben - wenngleich nicht dutzende.
Muss jetzt also die EU mangels Masse Ihren Gezeitenkraftplänen abschwören? Nein, nicht wenn man wirklich auf Erneuerbare Energien umsteigen will. Schließlich gibt es auch an den Atlantikküsten Irlands, Frankreichs, Portugals und Spaniens Gezeitenkraft-Potential. Ja, im Prinzip sogar überall dort, wo einmal Gezeitenmühlen standen - und das ist auch in Belgien, Holland, ja selbst an der Elbe und in Hamburg der Fall. Diese Potentiale sind natürlich gering, aber schließlich gibt es die großen Flußsperrwerke, von denen einige wie das Oosterschelde-Flutwehr bereits zur Energieerzeugung genutzt werden. In dieser Hinsicht wartet in Deutschland noch das Eider-Sperrwerk seiner Entdeckung. Und auch der Jadebusen mit seinen drei Metern Tidenhub ließe sich nutzen. Möglichkeiten gäbe es genug - wenn man denn will. Um die 60 GW Gezeitenkraft dann 2050 zu erreichen, müsste die EU sich wirklich anstrengen. Denn heute haben die Brüsseler Plänemacher noch nicht einmal 15 MW erreicht.