13.01.2023
Lützerath – zwischen Rechtsstaat und Demokratiedefizit
Ein Kommentar von Götz Warnke
Wie immer der Kampf um den Jahrhunderte alten Weiler Lützerath bei Erkelenz im Rheinischen Braunkohlerevier ausgeht, einen Frieden und eine Verständigung zwischen den Protagonisten wird es nicht geben. Dazu liegen nicht nur die Positionen der Beteiligten zu weit auseinander – auf der einen Seite der Energiekonzern RWE und die schwarz-grüne Landesregierung, die sich auf einen Weiterbetrieb des Tagebaues Garzweiler bei gleichzeitig auf 2030 vorgezogenem Kohlestopp geeinigt haben, auf der anderen Seite die Klimaaktivisten, die zu recht ihre Zukunft in einer klimafreundlichen Welt schwinden sehen. Weit jenseits seiner tatsächlichen Bedeutung ist Lützerath inzwischen für beide Seiten zum Symbol geworden.
Es ist aber auch der Zusammenstoß verschiedener Generationen und Rechtsstaatsprinzipien. Auf der einen Seite stehen die staatlichen Stellen wie Behörden, Polizei und Gerichte, die nach dem Legalitätsprinzip das geltende Recht formal durchsetzen müssen. Das kann in einem Rechtsstaat, in dem die Gesetze auf demokratischem, von einer unabhängigen Justiz kontrollierten Wege zustande gekommen sind, auch gar nicht anders sein. Und auch der wenig sympathische Konzern RWE hat das Gelände legal gekauft und damit einen gültigen Rechtstitel.
Auf der anderen Seite stehen vor allem jüngere Menschen, die z.T. noch über keine demokratischen Teilhabemöglichkeiten verfügen, aber sich von der Mehrheit der gegenwärtigen Bürger zu einer Zukunft in einer überhitzten Klimachaoswelt verurteilt fühlen, die viele von ihnen und der noch zu gebärenden Generationen das Leben kosten wird. Und dies ist eben keine diffus-esoterische Weltuntergangsfurcht à la 2012 nach dem Mayakalender oder ein Politwahn wie Glauben der „Reichsbürger“, sondern es ist wissenschaftlicher Konsens der Klimawissenschaft und der sie tragenden Naturwissenschaften. Um eine irreversible Klimakatastrophe zu verhindern, müssen wir die Klimagasemissionen schnellstens auf null bringen. Das haben 2015 auf dem Pariser Klimagipfel auch die Staaten der Welt völkerrechtlich anerkannt – selbst große Erdölproduzenten wie Saudi-Arabien, große Gasproduzenten wie Russland und große Kohleexporteure wie Australien haben dem zugestimmt. Nur: fast niemand hält sich daran – auch die Bundesrepublik nicht. Ständig werden hier wie überall selbst die vereinbarten, aber in Wirklichkeit ungenügenden Klimaziele verfehlt.
Damit kollidieren hier verschiedene ethische und Rechtsprinzipien: das nicht vertragsgemäße Handeln der Regierenden im Hinblick auf eine Klimakatastrophe, die nach einhelliger Wissenschaftsanalyse zu einer Vernichtung großer Teile künftiger Generationen und eventuell zur Unbewohnbarkeit des Planeten führt, wirft die Frage auf, ob wir es hier nicht mit einem Völkermord zu tun haben. Das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), die deutsche Konkretisierung des internationalen Rechts, fasst in § 6 (1) Nr. 3 auch als Völkermord, eine Gruppe unter Lebensbedingungen zu stellen, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen. Zwar bedarf es laut VStGB zur Vollendung des Völkermordtatbestandes auch einer „Absicht“, aber man kann die Frage stellen, ob diese hier nicht durch ein „Begehen durch Unterlassen“ (§ 13 StGB) – die Regierung stoppt die Klimagasemissionen nicht ausreichend, da sie keine Wählerstimmen verlieren will – bereits gegeben ist, oder andere Rechtsbegründungen zum tragen kommen. Die Sache ist juristisch komplex und schwer entscheidbar, wie man auch an ähnlichen Fragestellungen sieht. In jedem Fall könnte sich hier die deutsche Regierung nicht auf ihre demokratische Legitimation berufen: das Völkerstrafrecht gilt für die lupenreinsten Demokratien ebenso wie für die übelsten Diktaturen.
Damit sind wir beim zweiten Problemkreis, dem hier auftretenden Demokratiedefizit. Eine der Grundsätze der Demokratie ist, Menschen ein Mitbestimmungsrecht an den sie betreffenden gesellschaftlichen Entscheidungen zu geben. Die Forderung „No taxation without representation“ war die Basis der unabhängigen Demokratie der USA. Und das allgemeine, gleiche Wahlrecht – nur für Männer – der Französischen Republik ab 1792 berücksichtigte die Tatsache, dass in erster Linie die Männer als Wehrpflichtige auch die Folgen der Entscheidungen des Nationalkonvents trugen. Selbst das viel kritisierte Preußische Dreiklassen-Wahlrecht übernahm das Prinzip der demokratischen Mitbestimmung der primär Betroffenen: beim allgemeinen Männerwahlrecht als Wehrpflichtige im Krieg, und bei der 3-Klassen-Abstufung als unterschiedliche steuerliche Belastung im Frieden. Der 1. Weltkrieg machte dann mit Tod, Versehrtheit und Hunger in der Heimat unübersehbar deutlich, dass aus politischen Entscheidungen erheblich höhere Belastungen und Betroffenheiten folgen können als Steuerangelegenheiten – und zwar sowohl für Männer als auch für Frauen. Das Resultat war die Weimarer Verfassung mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für Männer und Frauen. Noch 1970 wurde bei der Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre damit argumentiert, dass man die jungen Wehrpflichtigen im Verteidigungsfall einer Lebensgefahr aussetze; daher müssten sie auch ein demokratisches Mitspracherecht haben.
Und hier liegt die Krux unserer heutigen Demokratie: die klimarelevanten politischen Entscheidungen werden vorwiegend von der größeren Menge der älteren Wähler getroffen, die zwar daraus alle Vorteile für ihren Lebensstandard und ihre Bequemlichkeit ziehen, die irreversiblen, verheerenden Folgen ihrer Entscheidungen aber nicht mehr erleben müssen. Dagegen haben die jüngeren Generationen, die diese Folgen werden ausbaden müssen, heute überwiegend kein Mitsprachrecht, und künftig keine Möglichkeit, gegen das aus den Fugen geratene Klima wirkungsvoll etwas tun zu können.
Wie aber könnte eine Lösung aussehen? Zumal eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre allenfalls ein gut gemeintes Symbol ist, was aber weder den ungeborenen Generationen noch den Menschen im „globalen Süden“ weiter hilft, die künftig alle das Klimachaos ertragen müssen, das insbesondere auch durch deutsche Emissionen befeuert wird.
Eine Lösung könnte sein, dass man grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse, die globale Überlebensfragen betreffen, als Basis für politische Entscheidungen verpflichtend macht. Das würde zwar in unserer Demokratie die Entscheidungsfreiheit der Wähler und Regierenden einschränken, aber wäre grundsätzlich nicht ungewöhnlich. Schließlich werden auch jetzt schon mögliche Entscheidungen demokratischer Staaten z.B. durch das Völkerrecht beschränkt. Eine solche wissenschaftsbasierte Politik könnte ein Ausweg aus dem sich gegenwärtig verschärfenden Generationskonflikt sein. Klar ist in jedem Fall: die Politik des Herummerkelns auf existentiellen Politikfeldern muss ein Ende haben.