24.06.2022
Dezentrale Bürgerenergie kontra Übertragungsnetzausbau
Ein Veranstaltungsbericht von Heinz Wraneschitz
„Trassengegner fordern mehr Stromnetzausbau.“ Diese Überschrift trug die im Mailpostfach gelandete Einladung zu einer Online-Veranstaltung. Im ersten Moment hatte ich vermutet: Das „Aktionsbündnis Trassengegner“ ist von einem Übertragungsnetzkonzern gehackt worden. Doch als ich weiterlas, wurde schnell klar: Dörte Hammann, die Pressesprecherin des im Kreis Nürnberger Land angesiedelten Aktionsbündnisses fordert von den Verantwortlichen in Politik und Behörden „eine kritische Neubetrachtung, welcher Netzausbau notwendig ist und welcher nicht“. Und für die Veranstaltung wurde versprochen: Es werde „auf die jahrelang von vielen Fehleinschätzungen und Versäumnissen geprägte Energiewende“ eingegangen. Dabei waren zwei der drei angekündigten Referenten nicht gerade solche, die man bei einer Trassengegner-Veranstaltung unbedingt erwarten würde.
Über 160 Menschen hatten sich an einem biergartengeeigneten Dienstagabend jedenfalls die Zeit vor dem Computerbildschirm genommen. In ihrer Anmoderation machte Dörte Hamann auch gleich klar, wo sich ihr Bündnis mehr Leitungsausbau wünscht: „Beim regionalen Verteilnetz. Das wird öffentlich kaum beachtet. Doch das muss flächendeckend bedarfsgerecht ausgebaut werden, damit dezentrale Erzeugungsanlagen dort grüne Energien einspeisen können.“
Was macht ein Baukonzernvertreter hier?
Josef Bayer, der erste Referent, bekannte gleich zu Beginn: „Ich teile diese Betrachtungsweise. Aber ich bin kein Trassengegner“, sondern Forschungs- und Entwicklungschef beim international tätigen Baukonzern Max Bögl aus der Oberpfalz. Aber ehrenamtlich arbeitet er auch in Gremien des Elektrotechnik-Verbands VDE mit, gilt als einer der Väter des „Zellularen Ansatz“. In Studien, die erste stammt aus dem Jahr 2015, hat die VDE-Arbeitsgruppe nachgewiesen: Durch den Aufbau dezentraler Energieerzeugungs- und Speicherzellen und regionalen Energieaustausch sind viele der von den vier deutschen Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) geplanten Höchstspannungs- und Gleichstromtrassen überflüssig.
Weil Bayer kein Theoretiker ist, hat er auch gleich begonnen, am Bögl-Stammwerk Sengenthal Nägel mit Köpfen – oder besser: daraus eine echte Energiezelle zu machen. Wind- und Solarstrom, Hackschnitzelkraftwerk, Dampfmotor und Batteriespeicher erzeugen inzwischen mehr erneuerbaren Strom als jene 26 Gigawattstunden (GWh), die im Werk jährlich verbraucht werden. Sogar Inselbetrieb sei möglich oder ein „Schwarzstart“, um auch dem darum liegenden Bayernwerk-Verteilnetz wieder auf die Sprünge zu helfen. Alles dank INZELL – so heißt das geförderte Forschungsprojekt.
Für die nächsten zehn Jahre habe Bögl sogar Pläne, das Gasnetz umzustellen, die Fahrzeugflotte zu elektrifizieren, wenn möglich den Diesel der Schwerlaster zu ersetzen und noch einiges mehr. „Auf keinen Fall auf nur eine Lösung versteifen“ will sich Josef Bayer.
Nur mit der Wasserstoff-Euphorie der bayerischen und Bundes-Politik kann er sich nicht wirklich anfreunden: Selbst wenn H2 „grün“ vor Ort erzeugt werde, erreiche die Rückverstromung nur eine 35- bis 50-prozentige Energieausnutzung, so die Kritik des Bögl-Managers. Der im Übrigen die CSU-Windabstandsregel 10H als „den größten wirtschaftspolitischen Schaden für Bayern“ brandmarkte.
Energieversorger unter Trassengegnern
Rainer Kleedörfer war der zweite Referent, der nicht Mitglied im Bündnis der Trassengegner ist. Doch sei bekannt, dass sich dessen Unternehmen, der Nürnberger Versorger „N-Ergie seit Jahren für stark für Verteilnetze und damit für die Energiewende einsetzt“, erklärte Dörte Hamann dessen Auftritt.
Kleedörfer „freut, dass jetzt Dinge öffentlich gedacht werden, die wir vor einigen Jahren eingespeist haben“. So hat die N-Ergie zum Beispiel den Zellularen VDE-Ansatz auf das Verteilnetz des Konzerns herunterbrechen lassen.
Maßgeblich an der Studie beteiligt war die heutige Wirtschaftsweise Prof. Veronika Grimm. Deren damals in einem Satz zusammengefasstes Ergebnis: Die dezentrale Regenerativversorgung sei volkswirtschaftlich sinnvoller als die Verteilung zentral erzeugten Ökostroms durch neue Übertragungsleitungen. Unter anderem „dafür sind wir bis vor wenigen Monaten verlacht worden“, erinnerte sich nun Kleedörfer. Doch trotz der – auch dem Putin‘schen Ukrainekrieg geschuldeten – neuen Diskussion über mehr einheimische Erzeugung „fehlt bei vielen Akteuren der Gemeinwohlblick“. Damit meinte er wohl vor allem die ÜNB.
Seine Kritik: „Aktuell bauen wir eine teure Infrastruktur auf, ohne zu erkennen, dass die Engpasssituationen nur an wenigen Stunden im Jahr bestehen.“ Weil aber der Verteilnetzausbau in den für die Politik bestimmten Studien der letzten Jahre nicht berücksichtigt sei, „gehen die in Berlin davon aus, das Verteilnetz ist immer da“, so Kleedörfer. Gleichzeitig aber gebe der Bund den massiven Ausbau von Wind- und Solarkraftwerken vor – den zehn Jahre dauernden Netzausbau berücksichtige er jedoch nicht.
Doch der N-Ergie-Prokurist ist überzeugt: „Es geht eigentlich darum, Energie zu transportieren, und nicht nur Elektronen.“ Deshalb brauche man überall im Land „einen Technologiemix aus PV, Wind, Speichern, thermischen Anlagen und Intelligenz, ein Bildungsprogramm für 250.000 zusätzlich notwendige Fachkräfte in Handwerk und Baugewerbe. Die Umnutzung der bestehenden 32.000 Kilometer Gasnetz auf Wasserstofftauglichkeit, das ist billiger als ÜNB-Ausbau. Und eine Abkehr vom Irrglauben, die Energiewende könnten Finanzinvestoren stemmen: Das schafft nur dezentrale Bürgerenergie.“
Kritiker unter Kritikern
Dritter in der Referentenrunde war tatsächlich ein rein Umweltbewegter: Werner Neumann, beim BUND Sprecher des Bundesarbeitskreises Energie, kritisierte vor allem Fehler früherer Bundesregierungen: „Der regionale Stromaustausch müsste netzdienlich betrieben werden. Doch die regionalen Netzbetreiber sind in diesen Handel nicht eingebunden, das ist gesetzlich nicht vorgesehen. Das liegt auch an der so genannten Liberalisierung. Da müssen die Regeln eben endlich mal geändert werden“, forderte er die aktuelle Bundesregierung zum Handeln auf. Gerade „kommunale Versorger müssen erzeugen, verteilen, speichern können“, so Neumann.
Und dann zitierte er ausgerechnet Amprion, einen jener vier deutschen ÜNB: Die hätten in einer aktuellen Studie Wasserstoff- statt Stromleitungen gefordert, schwenkten also scheinbar in Richtung Bürgerenergie und zellularen Ansatz um, so Neumanns Einschätzung. Selbst der Gasversorgerverband DVGW habe sich in einer Studie für Dezentralität ausgesprochen, „wenn darin auch nicht Zellen (wie beim VDE, d.Red.)sondern Quartiere stehen“.
Amprion habe sogar eine Strommarktoptimierung mit 16 Preiszonen rechnen lassen, wusste Neumann zu berichten. (Anmerkung d.Red.: die kurzfristige Überprüfung der Amprion-Aussagen war uns nicht möglich.) Dabei scheuen ÜNB wie Bundes- und Landesregierungen bisher vor unterschiedlichen Netzgebühren zurück.
Zwar waren sich am Ende alle Protagonisten mit dem BUND-Mann einig: „Die Energiewende ist ein Gemeinschaftswerk – die Rechtsgrundlage dafür gibt es aber noch nicht.“ Weshalb eine Zuhörerin sogar frustriert fragte: „Warum hören die Politiker nicht auf uns Bürger und die kommunalen Versorger?
Doch BUND-Energiesprecher Neumann machte allen ein wenig Hoffnung auf mehr dezentrale Energiegemeinschaften: „Die Diskussion um Stromnetzzonen ist im Gang. Ein gutes Zeichen, dass vielleicht auch bald dezentrale Betreibergesellschaften möglich sind.