17.12.2021
Vollversorgung mit Erneuerbaren Energien in der Region Berlin-Brandenburg bis 2030?
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Sind 100 Prozent Erneuerbare Energien in der Hauptstadtregion möglich? Ja! Das ist das Ergebnis einer Studie der Organisation Energy Watch Group (EWG), die vergangene Woche veröffentlicht wurde. Die Studie bezieht sich auf Modellierungen für drei verschiedene Szenarien. Der Fokus lag auf „der Umstellung von einem in der Region Berlin-Brandenburg zu gut 83 % durch fossile Energien befeuerten System zu einem mit Erneuerbaren Energien grundlegend dezentralerem System innerhalb von kaum zehn Jahren“.
Alle Energiesektoren berücksichtigt
Die Studie „100 % Erneuerbare Energien für Berlin-Brandenburg bis 2030: Bedarfsgerechte Vollversorgung aller Energiesektoren“ umfasst nicht nur den Strombereich, sondern auch die Energiesektoren Wärme, Verkehr und Industrieproduktion. Die untersuchten Szenarien unterscheiden sich in Annahmen zur Preisentwicklung. Das erste Szenario ist ein „konservatives“ mit hohen Kosten für Wasserstoffspeicherung, Wasserstoffpipelinetransport und Brennstoffzellentechnologie. Das zweite ist das „EWG Szenario“ mit mittleren Kosten, und das dritte das „progressive“ Szenario mit niedrigen Kosten und einer schnellen weltweiten Umstellung auf Erneuerbare Energien. Nach Angaben der Autoren wurden die Szenarien so ausgewählt, da eine „Unsicherheit der zu erwartenden Kosten der Nutzung von grünem Wasserstoff in stationären Energieanwendung (Nicht-Verkehrsanwendung)“ bestehe, sowie in der „Machbarkeit von insbesondere Salzkavernenspeicherung von Wasserstoff, dessen Transport und die industrielle Nutzung in Brennstoffzellen“. Im Gegensatz zu Gas- und Dampfturbinenkraftwerken würden Brennstoffzellen die Möglichkeit bieten, kleinere – „vergleichsweise dezentral zu errichtenden“ – Anlagen zu nutzen, die weniger auf einen Ausbau der öffentlichen Infrastrukturen angewiesen seien. Beispielsweise liegt dem mittleren Szenario die Annahme zugrunde, „dass in Brandenburg Salzkavernen und andere Großspeicher zu gleichen Teilen genutzt werden können und die Kosten je kWh Wasserstoffspeicher 4,6 Euro betragen, während in Berlin 13 Euro pro kWh Speicherkapazität für eine Mischung aus kleineren und größeren Speichern aufzuwenden sind“.
Die Studie basiert auch auf Ergebnissen einer 2014 veröffentlichten Analyse für eine Umstellung auf eine Vollversorgung mit Erneuerbare Energien in Berlin und Brandenburg im Strombereich („Transforming the electricity generation of the Berlin-Brandenburg region, Germany“).
Das mittlere Szenario
„Im EWG Szenario wird nicht nur eine klimaverträgliche, sondern auch günstige Vollversorgung durch die optimierte Nutzung der vorhandenen Potentiale Erneuerbarer Energien erreichbar“, sagen Thure Traber und Hans-Josef Fell. Die Stromversorgung im EWG-Szenario mit 100 % Erneuerbaren Energien ermögliche auch eine vollständige Wärmeversorgung ohne Treibhausgasemissionen. Die ermittelten Kosten liegen „bei durchschnittlich 76 Euro pro MWh“, so die Autoren der Studie, und somit „niedriger als die bundesdurchschnittlichen Energiekosten von über 90 Euro pro MWh“. Demnach sei die Vollversorgung durch Erneuerbare Energien ökonomisch vorteilhaft für Berlin-Brandenburg. „Dabei werden auch die zusätzlichen Abhängigkeiten von fossilen Energien abgeschafft und ein wesentlicher Beitrag für das Pariser Klimaschutzabkommen geleistet”, betont Hans-Josef Fell, Mitautor der Studie und Präsident der Energy Watch Group. Ein Ergebnis der Untersuchung ist eine Verringerung des Gesamtenergieverbrauchs „um etwa 16 %“ im Vergleich zu heute, „insbesondere durch den Effizienzgewinn durch E-Mobilität und Wärmepumpen gegenüber den heutigen dominanten Verbrennungsmotoren und Erdöl-, wie Erdgasheizungen“.
Laut Studie wird, über das Jahr betrachtet, „der gesamte Endenergiebedarf an Wärme, herkömmlicher Stromanwendung und Elektromobilität von 133 TWh im EWG Szenario durch 109 TWh Strom ermöglicht“.
So erfolgt ein Großteil der Wärmerzeugung durch Wärmepumpen und wird zu geringerem Teil durch Heizstäbe direkt aus Strom gewonnen, sowie aus thermischen Anlagen mit Kraftwärmekopplung, die in den existierenden Fernwärmenetzen genutzt werden können. Zur Überbrückung von Zeiten mit geringer Verfügbarkeit Erneuerbarer Energien werden große Teile der Primärwärme in Wärmespeichern zwischengelagert.
Gut 50 % der Berliner Versorgung wird im EWG-Szenario jährlich durch Importe aus Brandenburg bereitgestellt, so die Autoren (siehe Grafik).
Blick auf die Photovoltaik
Für die Stromerzeugung ist ein Ausbau der Photovoltaik erforderlich. Für Berlin seien Photovoltaikanlagen auf Gebäuden „von heute 0,1 GW auf 11,9 GW“ auszubauen. In Brandenburg Freiflächenanlagen und Gebäudeanlagen, mit einem Ausbau von 1,1 GW auf 27 GW. Die Autoren erläutern: „Der Flächenbedarf der erforderlichen Freiflächen-PV benötigt in herkömmlicher Ausführung etwa 0,5 % der Landesfläche der Region und kann durch die gemeinsame Flächennutzung von Photovoltaikanlagen mit gleichzeitiger landwirtschaftlicher Nutzung über Agri-PV weiter gesenkt werden.“
Blick auf die Windenergie
In Brandenburg sei das Energiesystem „idealerweise auf wesentliche regionale Windkraftpotentiale aufzubauen“. Laut Studie werden diese „von heute knapp 9 GW um rund 3 GW auf 12 GW weiter ausgebaut, um die vollständige Umstellung aller Energiesektoren in der Region Berlin-Brandenburg zu ermöglichen“. Damit bleibe der Windkraftausbau in der Größenordnung der aktuellen Ausbaupläne der Brandenburger Landesregierung.
Blick auf Geothermie und Bioenergie
Damit „die Kosten für Speicherung insbesondere zur Bedarfsdeckung in Zeiten der Dunkelflaute“ begrenzt werden können, sollen Geothermie um 0,7 GW und Bioenergie auf 3,3 GW ausgebaut werden, so die Studienergebnisse.
Mit Blick auf eine relativ kleinräumige Versorgung einer Metropole wie Berlin beabsichtigen die Autoren „eine selbständige Perspektive für Berlin und Brandenburg aufzuzeigen“. Dass sie die modellierte Versorgung unabhängig vom deutschen und europäischen Verbandnetz betrachten, bedeute nicht, dass die Vorteile von Verbundlösungen in Frage gestellt werden. In einem europaweiten „integrierten 100 % EE-System“ werde durch einen Ausgleich von Verbrauchsspitzen voraussichtlich weit weniger Wasserstoff- und Batteriespeicher benötigt.
Sie fügen hinzu, „dass mit Wasserkraft aus Süddeutschland und den Alpenländern sowie Offshore-Wind aus
Nord- und Ostsee erhebliche fast ganzjährig verfügbare Leistung hinzukommen würde“. Das in der Studie vorgestellte System sei jedoch „im Bereich der Erzeugungsanlagen voraussichtlich für den weit überwiegenden Teil der Anlagen auch für eine Verbundlösung mit 100 % EE effizient“.