15.10.2021
Aarhus-Klagen: Was in Europa gilt, ist noch lange nicht in Deutschland recht und billig
Ein irrer Statusbericht von Heinz Wraneschitz
Es ist einfach nur irre! Ende letzten Jahres forderte die EU-Kommission das europäische Parlament auf, es möge beschließen: Nichtregierungsorganisationen (NGO) oder 4.000 Bürger*innen gemeinsam sollten gegen umweltrelevante Rechtsakte klagen können, die ausgerechnet jene EU-Kommission und ihre Unterorganisationen erlassen. Und am 6. Oktober 2021 hat das EU-Parlament genau diese „Entschließung“ verabschiedet. Vor wenigen Wochen hatten die DGS-News über diesen zu erwartenden Beschluss bereits berichtet, der nun mit großer Mehrheit gefasst wurde.
Ab sofort also können „die Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft“ von Bürgern und NGOs tatsächlich in Anspruch genommen werden – 23 Jahre, nachdem der völkerrechtlichen Aarhus-Verträge von der EU und mehreren Dutzend europäischen Ländern geschlossen worden sind.
Doch ausgerechnet im EU-Vorzeigeland Deutschland gibt es immer wieder Ärger über die Aarhus-Konvention: Der Bundesregierung ist augenscheinlich schlichtweg schnuppe, was dieses Völkerrecht grundsätzlich fordert - den frühzeitigen Zugang zu Gerichten in relevanten Umweltangelegenheiten in Zusammenhang mit Bundesgesetzen, beispielsweise wenn es um die mehrtausend Kilometer Hochspannungstrassen kreuz und quer durch Deutschland geht; auch darüber haben die DGS-News schon des Öfteren berichtet.
Wie es scheint, ist es sogar noch schlimmer: Anstatt wenigstens die Installation einer neuen Bundesregierung mit möglicherweise anderen Umwelt- und Klimaideen abzuwarten, gibt Noch-Bundeswirtschafts- und Energieminister Peter Altmeier einen 171 Seiten starken „Praxisleitfaden Netzausbau“ heraus. Am Papier maßgeblich mit geschrieben hat die „Renewables Grid Initiative (RGI)“, die den Europäischen Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) ziemlich nahesteht. Und die RGI unternimmt aktuell auch – wie von den DGS-News und anderen Medien dargestellt – ganz augenscheinliche Kuschelversuche mit Organisationen wie Fridays for Future.
Das Netzausbaupapier ging übrigens genau einen Tag vor der EU-Parlamentsentscheidung online. Ob Zufall oder nicht: Altmeier brüskiert damit sowohl das EU-Parlament wie auch den Europäischen Gerichtshof. Der hatte nämlich ein paar Wochen zuvor in einem „epochalen Urteil“ verfügt: Die bundesdeutsche Netzagentur BNetzA, zurzeit direkt dem BWMi unterstellt, müsse seine Entscheidungen frei von politischen Vorgaben treffen können. Dabei haben gerade Stromnetzausbaugegner oft das Gefühl, dass die BNetzA gar die Wünsche der ÜNB nahezu 1:1 in ihre Ausbaupläne übernimmt und mit Hilfe des BMWi durch den Bundestag in Gesetze gießen lässt.
Nun wäre eigentlich die Aarhus-Konvention ein völkerrechtliches Mittel, den immer wieder fortgeschriebenen Stromnetz-Bedarfsplan von Altmeiers Ministerium und der BNetzA gerichtlich anzugreifen, bevor daraus konkrete Trassenplanungen entstehen. Doch das verhindert das aktuell gültige, schon einmal vom Europäischen Gerichtshof gerügte Umweltrechtsbehelfsgesetz. Das Gesetz steht, obwohl vor ein paar Jahren renoviert, nach Meinung von Verwaltungsjuristen bis heute dem Aarhus-Völkerrecht entgegen.
Ein EU-Vertragsverletzungsverfahren mit Bezug zum europäischen Umweltrecht hat die EU-Kommission ohnehin erst kürzlich gegen die Bundesrepublik angestrengt. Doch der EU-Parlamentsbeschluss vom 6. Oktober, nach dem NGO oder 4.000 Bürger*innen gemeinsam gegen umweltrelevante Rechtsakte klagen können, hilft hierbei nicht: Er gilt nur für solche „Rechtsakte“, welche die EU-Kommission und ihre Unterorganisationen erlassen haben. „Natürlich fordern wir auch für sämtliche Mitgliedsstaaten der EU diese Rechtsgrundlage“, erklärt Brigitte Artmann aus Wunsiedel, die Sprecherin der Aarhus Konvention Initivative, auf Nachfrage. Diese Forderung der NGO-Vertreterin kann Rechtsanwalt Wolfgang Baumann nach eigener Aussage voll unterstützen: Baumann vertritt unter anderem bayerische Kommunen in ihrem Kampf gegen - nicht nur aus ihrer Sicht - überdimensionale Höchstspannungsstromtrassen.
Doch aus dem Büro des Grünen Europaabgeordneten Sven Giegold ist wenig Hoffnung zu verspüren, dass dieses europäische bald auch bundesdeutsches Recht wird: „Jedes einzelne Land muss die Aarhus-Verträge umsetzen“, heißt es zwar. Aber eben auch: Jedes Parlament selbst müsse diese Regelungen beschließen. Und so dürfte es eher bis zum St. Nimmerleinstag dauern, bis im EU-Musterland Bundesrepublik Deutschland endlich dieselben Klagemöglichkeiten von NGO und Bürger*innen gelten wie bei der Europäischen Union. Einfach nur irre.