08.10.2021
Pioniere der Erneuerbaren Energien 5: Max Gehre
Ein Bericht von Götz Warnke
Die Erneuerbaren Energien sind weder plötzlich vom Himmel gefallen noch sind sie das Produkt unbekannter Erfinder nach einer durchzechten Nacht. Sie sind das Ergebnis unzähliger Einzelinnovationen von einer Vielzahl von Menschen, die heute – stets zu Unrecht – mehr oder minder vergessen sind. Diese Pioniere der Erneuerbaren Energien aus dem Halbschatten der Geschichte ins fachöffentliche Bewusstsein zu ziehen, ist der Sinn dieser Serie. Die entsprechenden Beiträge werden in unregelmäßigen Abständen und ohne chronologische Reihenfolge der Personen erscheinen. Auch stellt die Reihenfolge keine Rangfolge der technisch-wissenschaftlichen Leistungen der entsprechenden Personen dar.
Max Gehre (1855–1928)
Seine Werke finden sich auf Buchtiteln, im nationalen Automuseum MUTO in Turin, und in den Sammlungen der französischen Akademie der Wissenschaften, aber über ihn selbst ist praktisch nichts zu finden. Nein, die Rede ist hier nicht von Max Gehre, sondern von einem M. (Monseigneur) du Quet. Wann wurde er geboren, wann ist er gestorben, lebte er in Frankreich oder im frankophonen Kanada – nichts davon ist bekannt. Gut, man kann argumentieren, dass selbst bei sehr erfinderischen Geistern, die wie du Quet wohl noch im 17. Jahrhundert geboren und im 18. Jahrhundert gestorben sind, die biographischen Daten über die Jahrhunderte verschwinden können.
Doch das Phänomen betrifft nicht nur solche Erfinder, sondern auch kreative Geister, die selbst heutige Zeitgenossen noch gekannt haben können – Beispiel: Max Gehre. Selbst hier muss man sich die bruchstückhaften Informationen aus verschiedenen Quellen zusammensuchen, wenn man was über diesen Erfinder der Nutzung der Erneuerbaren Energien erfahren will.
Max Gehre wurde am 25. April 1855 in Dessau geboren. Welches seine Eltern waren und wo er sein Ingenieurstudium abgeschlossen hat, wissen wir nicht. Das nächste Mal taucht er indirekt mit knapp über 40 Jahren in Düsseldorf auf, und zwar auf dem offiziellen Briefpapierkopf der Rather Röhrenkesselfabrik von 1896, wo sich der Zusatz „vorm. M. Gehre GmbH“ findet. Ob Gehre die Firma selbst aufgebaut oder ob er in eine Fabrikantenfamilie eingeheiratet hat, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
1898 weilte Gehre als Kurgast im Nordseebad Büsum.A Dort beschäftigte er sich ab 1900 nicht nur mit der Elektrifizierung des Ortes, die er mit seiner Firma M. Gehre & Co. und der Düsseldorfer „Baugesellschaft für elektrische Anlagen“ durch Errichtung einer E-Zentrale umsetzte, sondern auch mit der für den Fischereihafen wichtigen Verbesserung des Seezeichenwesens.B Das Besondere dabei war, dass Gehre dabei gleich zwei verschiedene Formen der Erneuerbaren Energien kenntnisreich und innovativ einsetzte.
Das erste war eine Leuchtboje bzw. Signaltonne zur Kenntlichmachung des Fahrwassers, die aus einer Wellenkraftmaschine ihren Strom bezog, und am 04.09.1900 in (Test-)Betrieb ging. Das „Schwiegermutter“ genannte Seezeichen bestand aus einer eisernen waagerechten Tonne mit 3,5 m Länge und einem Durchmesser von 1,5 m. An ihr war auf der einen Längsseite ein längerer Ausleger mit Schwimmer angebracht, der das Umkippen bzw. Durchkentern bei stärkerem Seegang verhindern sollte. Auf der anderen Seite befand sich ein kleinerer Schwimmer, der über einen Hebelmechanismus, Zahnräder und Sperrklinken ein Gewicht im Inneren der Tonne anhob. Wenn dieses Gewicht den oberen Totpunkt überschritten hatte, senkte es sich herab und trieb dabei einen Dynamo an, von dem eine elektrische Leitung zu einer Lampe und einer Nebelglocke in ca. 4 m über der Tonne führte. Da die Leuchtboje nur den Schwerkraftspeicher hatte, konnte sie nur bei Wellengang leuchten – und auch dann nur in der Zeitspanne, in der sich das Gewicht nach unten senkte und so den Dynamo antrieb.
Das zweite Projekt war ein elektrischer Leuchtturm, der durch eine amerikanische Windturbine angetrieben und Anfang Februar 1901 in Betrieb genommen wurde; Gehre hatte ihn auf eigene Kosten bauen lassen. Die Turbine dieses am Hafen stehenden Leuchtturms war allerdings kleiner als die der „Am Oland“ stehenden Windkraftanlage des ab Anfang November 1900 laufenden Elektrizitätswerkes, da eine Verdeckung des elektrischen „Leuchtfeuers“ durch die oben liegende Turbine verhindert werden musste. Die Höhe des Leuchtturms wird mit 20 bis 24 m angegeben, doch Fotos zeigen, dass er inklusive der Windturbine deutlich höher gewesen sein muss. Wie die Leuchtboje hatte der Leuchtturm einen primären Speicher in Form von Gewichten, die bei entsprechendem Wind an Ketten hochgezogen wurden. Anders als beim Konstrukt in der Boje wurde der dann von der Schwerkraftkette mittels eines Dynamos erzeugte Strom in einem Akku gespeichert und nächtens für die Lampen genutzt. Der Schwerkraftkörper hatte eine Masse von 240 kg und eine „Fallstrecke“ von ca. 10 m, die er in 28 Sekunden zurücklegte. Die Ladestromstärke für den Akku betrug 10 Ampere.
Wegen dieser zwei ungewöhnlichen nautischen Innovationen fand im Auftrag des Kieler Nautischen Vereins am 24.10.1901 eine offizielle Besichtigung durch Vizeadmiral Richard Aschenborn, dem Vorstand der Kieler Seewarte Bellers sowie dem Zivilingenieur und Sachverständigen Dr. R. Blochmann statt. Die Ergebnisse waren sehr zufriedenstellend, wobei allerdings die Leuchtboje erst nach aufkommendem Wind und entstehenden Wellen arbeitete. Auffällig ist, dass im Protokoll der Begutachtung sowohl die Leuchtweite des Turmes als auch der Boje in dieser Nacht mit 7 km angegeben werden – weiter trauten sich die Herrschaften wohl mit ihrem kleinen Kutter nicht aufs Meer hinaus.
Der Bericht über die Begutachtung wurde von Aschenborn, Bellers und Blochmann am 1. Dezember 1901 unterzeichnet, und 1902 sogar als fünfseitige Abhandlung gedruckt.C In ihm findet sich allerdings schon die Zeichnung und Beschreibung einer neuen Leuchttonne von Max Gehre. Denn die alte Leuchttonne hatte mehrfach „Schiffbruch“ erlitten, und dies sogar öffentlich anlässlich einer Feier. Sie war bei Sturm einfach den Kräften der See nicht gewachsen.
Die zweite Tonne hatte nur einen kürzeren Ausleger ohne Hebelmechanismus. Die Wellenkraftmaschine mit ihrem Schwerkraftantrieb lag vollständig gekapselt im Inneren der Tonne und war daher gegenüber der rauen See resistenter. Dennoch schafften es weder die Signaltonne noch der Leuchtturm in das offizielle Seezeichenverzeichnis des Wasser- und Schifffahrtsamtes, weshalb Gehre schon bald das Interesse an beiden Projekten verlor, und diese still gelegt wurden – der Leuchtturm bereits 1902. Der Grund für die staatliche Ablehnung trotz des positiven Gutachtens war, dass die Seezeichen bei längeren Flauten nicht funktionierten, was am Fehlen geeigneter Stromspeicher lag.
Gehre selbst blieb weiter Kurgast in Büsum, zumal er auch Mitinhaber des Elektrizitätswerkes war. Letzteres verkauften er und seine Teilhaber erst 1917 an die Gemeinde Büsum. Gehre starb am 25.08.1928 in Düsseldorf-Rath.
Auch wenn seine Erfindungen keinen Erfolg hatten, und schnell wieder aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwanden, so bleibt doch vom fast vergessenen Max Gehre das Bild eines technisch versierten, innovativen Ingenieurs. Denn abgesehen von der ersten Version der Signaltonne war es prinzipiell nicht das grundlegende technische Konzept, das versagte. Das Problem waren große, relativ zuverlässige und kostengünstige Akkus, die es vor dem 1. Weltkrieg einfach noch nicht gab. Erst der U-Bootbau im Krieg löste entsprechende Technikentwicklungen aus.
Heute zeigen nicht nur windgetriebene Fahrrinnen-Zeichen z.B. in der Wismarer Bucht, dass Gehre mit seinem Wind-Leuchtturm prinzipiell richtig lag, sondern auch die breite Forschung an Wellenkraftwerken bestätigt Gehres Ansatz.
Literatur
A: Kurt Winter: Die Fischerei in Büsum, Verlag Boyens & Co., Heide 1984, S. 47 f.
B: Büsum - Von der Insel zum Nordseebad. Eine Chronik von Kurt Schulte, Verlag Boyens & Co., Heide 1989 , S. 190
C: Aschenborn u.a.: Bericht über die Besichtigung der von Herrn Ing. M. Gehre unter Benutzung der von Wind und Wellen erzeugten Energie konstruierten elektrischen Leuchtfeuer bei Büsum, Druck: Ostsee-Zeitung Kiel, 1902
Für die Unterstützung meiner Recherchen gilt mein besonderer Dank
Herrn Dr. Norbert Friedrich, Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth, Frau Kerstin Früh, Stadtarchiv Düsseldorf Frau Silke Herbst, Amtsarchiv Büsum und Herrn Heiko Knappstein, Stadtarchiv Ratingen
In unserer Serie „Pioniere der Erneuerbaren Energien“ sind bereits erschienen
Teil 1: Ehrenfried Walther von Tschirnhaus
Teil 2: Augustin Mouchotot
Teil 3: Poul la Cour
Teil 4: Johannes Juul