30.07.2021
100% Erneuerbare Energien schon 2035
Ein Bericht von Götz Warnke
Wer nicht gerade den Verstand verloren hat, angesichts der deutlichen Klimakrise-Zeichen nicht völlig betriebsblind oder gar Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen ist, weiß, dass der bisher immer noch öffentlich propagierte Zeitrahmen „Klimaneutral bis 2050“ völlig aus der Zeit gefallen ist. So viel Zeit haben wir einfach nicht mehr, wenn wir nicht diesen Planeten und seine Menschen ins Klimachaos stürzen wollen. Auch andere Jahreszahlen wie der Kohleausstieg 2038 oder der Fossil-Fahrzeug-Ausstieg 2035 haben mit der drängenden Realität nichts zu tun, sondern sind eher (Schreckens-)Märchen aus dem Land der ewig Gestrigen.
Aus dem für Deutschland noch verbleibenden CO2-Budget ergibt sich, dass die Defossilisierung unseres Landes, und damit sein Umstieg auf Erneuerbare Energien, spätestens 2035 abgeschlossen sein muss – besser noch früher. Ob und wie das möglich ist, hat jetzt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW Berlin) untersucht. Die siebenseitige Analyse mit dem Titel „100 Prozent Erneuerbare Energien für Deutschland: Koordinierte Ausbauplanung notwendig“ stammt u.a. vom DIW- Forschungsdirektor Christian von Hirschhausen und der Energieökonomin Claudia Kemfert.
Methodische ausgehend vom openENTRANCE-Projekt der EU mit seinen Kapazitätsannahmen, Fallstudien und Modellierungstools wird die Bundesrepublik zur genaueren Analyse in 38 Regionen eingeteilt, um zu einer detaillierteren Analyse zu kommen. Dann werden die zur Verfügung stehenden regenerativen Energietechniken aufgelistet, ebenso wie die verschiedenen Energie-Nachfrage-Segmente: Stromnachfrage, Raumwärme, Prozesswärme, Mobilität, gasförmige Energieträger (H2, CH4). Entscheidend für „100 Prozent Erneuerbare Energien für Deutschland“ sind natürlich Potenzialschätzungen für die maximal mögliche installierte Leistung der verschiedenen Erneuerbaren, wobei sich die Autoren auf jeweils neueste Studien beziehen: Onshore-Wind (223 Gigawatt/GW), Offshore-Wind (80 GW), Aufdach-PV (900 GW), Freiflächen-PV (226 GW). Das Potential der Fassaden-PV wird ebenso wenig ausgewiesen wie das der Wasserkraft (Laufwasser, Gezeiten, Wellen). Die so ermittelten Potentiale werden dann auf die 38 Regionen herunter gebrochen.
Aus den europäischen Energiemodellierungen wird dann für ganz Deutschland ein Strombedarf von 1.070 Terrawattstunden/TWh für die Bereiche gewöhnliche Stromnachfrage, Raumwärme, Verkehr und Industrie ermittelt. Dazu kommt noch ein Strombedarf von 134 TWh für die Produktion von synthetischen Gasen sowie 5 TWh für die – angeblich – schwer zu elektrifizierenden Bereiche Flugverkehr und (Hochsee-)Schifffahrt. Jenseits des Elektrifizierungsbedarfs, und damit nicht eingepreist, finden sich als Energieformen noch Biomasse und Biogas, und zwar für Industrie, Verkehr und Wärme. Insgesamt entsteht nach dem DIW ein Strombedarf von 1.209 TWh pro Jahr –
Volker Quaschning (1.320 TWh) und andere setzen da einen zum Teil deutlich höheren Energiebedarf an.
Ausgehend von diesen Prämissen werden zwei Sektorenkopplungs-Szenarien berechnet:
1) Das „desintegrierte“ Szenario, das ökonomisch auf die Optimierung der Erzeuger- und Speicher-Anlagen ausgerichtet ist, und davon ausgeht, dass es wegen des aktuellen Netzausbaus (Netzentwicklungsplan) nicht zu Netzengpässen kommen wird. Hier werden die Anlagen an energieoptimalen Standorten (z.B. Offshore-Wind) errichtet.
2) Das „integrierte“ Szenario, bei dem die Investitionen für Erzeugungs- und Speicherkapazitäten sowie für Netzausbau gemeinsam betrachtet werden. Hier werden die Anlagen eher verbrauchernah (z.B. Aufdach-PV) errichtet.
Beide Szenarien lassen sich als mit 100% Erneuerbaren Energien versorgte Systeme stündlich modellieren. Eine Vollversorgung mit Erneuerbaren bei gleichzeitig hoher Versorgungssicherheit ist in beiden Systemen möglich. Allerdings: Das „integrierte“ Szenario erzielt nicht nur eine stärkere regionale Gleichverteilung von Erzeugung und Verbrauch, sondern auch niedrigere Infrastrukturkosten. Denn alle Regionen können und sollen einen Beitrag zur Erzeugung und Speicherung leisten – was im übrigen nicht überall gleich gut ankommen dürfte: So sind im Szenario für Bayern 39,8 GW installierte Windleistung vorgesehen; heute kommt dieser Anlagen-Frei-Staat gerade mal auf knapp über 2,5 GW installierte Leistung. Es wird also künftig nicht mehr so leicht sein, politisch zwischen dem „Kampf gegen die Klimakrise – ja!“ und dem „Abschaffung der 10-H-Regel – nein!“ hin und her zumerkeln.
Fazit
Die vorliegende Studie des DIW Berlin ist eine wichtige Analyse der verschiedenen Pfade zum 100 Prozent erneuerbaren Energiesystem. Dennoch hat auch sie Schwächen: Die Solarthermie wird nicht, die Wasserkraft, insbesondere bei Meeresenergien, kaum berücksichtigt; bei Flugverkehr und Schifffahrt folgt die Studie zu leicht den Narrativen ("schwer zu elektrifizieren") interessierter Kreise. Dennoch bleibt das Verdienst nochmals deutlich gemacht zu haben, dass eine dezentrales regeneratives Energiesystem machbar, versorgungssicher – und kostengünstig ist.