09.07.2021
Ein offensives Spiel
Eine analytische Glosse von Tatiana Abarzúa
Der Hochsommer ist da, und mit ihm die Erderhitzung und die EM. In der Zeit zwischen den ersten Gruppenspielen und dem Achtelfinale brachte der drittwärmste Juni seit 1881 heiße Tage (≥ 30 °C) in Bad Kreuznach, Tropennächte in Berlin und im Süden neben sehr großen Regenmengen teils extrem heftige Gewitter. Wie der Deutsche Wetterdienst berichtet, fiel der meiste Regen, mit 115,0 l/m² (!), in Nürtingen-Reudern (Landkreis Esslingen). Während es im Großraum Berlin, dem mittleren Brandenburg und der Uckermark teilweise nur 5 l/m² waren.
Die Stimmung: Naheliegend, dass die Klimakrise als Wahlkampfhilfe für die Grünen gesehen werden kann. Oder, dass Armin Laschet gesagt haben könnte, es sei „sehr verdächtig, dass diese Ereignisse alle ausgerechnet in einem Wahljahr stattfinden". Und auch noch während der Fußball-Europameisterschaft! Gefühlt fiebern alle live mit, als wären sie im Stadion dabei. Und die Anzahl der Eigentore erreicht mittlerweile eine ganze Startelf. Doch immerhin die Klimafrage gilt als verfassungsrechtlich geklärt.
Die Ausgangsposition: Das erste Tor ist gefallen! Der Tabellenerste, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), veröffentlichte den Beschluss, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes von 2019 „über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen“.
Das Team CDUFDPNRW fordert die Klimaschutz-Verteidiger am 1. Juli heraus. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen nimmt sich vor, die Treibhausgasemissionen zu senken. Die Spielweise des traditionellen Kaders ist offensiv, die Spieler haben eine gute Ballkontrolle und nutzen das gesamte Spielfeld. Die Kette der Klimaschutz-Elf verliert den Ball! In der Abwehr entsteht eine kleine Lücke. Die Fraktionen der CDU und FDP stellen einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Landesregierung (Drucksache 17/14287). Zwischen den Beinen eines Außenverteidigers rutscht der Ball durch und rollt ins Tor. Die Klimaschutz-Fans auf der Zuschauertribüne zeigen sich überrascht. Manche raufen sich die Haare. Schwarz auf weiß steht jetzt in der Neufassung des Klimaschutzgesetz NRW: „Subjektive Rechte und klagbare Rechtspositionen werden durch oder auf Grund dieses Gesetzes nicht begründet“. Das bedeutet, dass kein Klagerecht eingeräumt wird, um die Umsetzung des Klimaschutzgesetzes gerichtlich zu erzwingen. Das war das Ausgleichstor! Es steht nun 1 zu 1.
Was geht hier vor? Spielt die CDUFDPNRW-Elf auf Zeit? Im nach eigenen Angaben „bislang ehrgeizigsten Klimaschutzgesetz eines Bundeslandes“ wurde auch beschlossen, die Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 bis 2030 „um mindestens 65 Prozent“ und bis 2040 „um mindestens 88 Prozent“ zu senken (Gesetz Vorabdruck 17/157, §3). Und “Treibhausgasneutralität bis 2045 herzustellen“ (§4). In diesem Gesetz steht: „ist der weitere, verstärkte Ausbau der Erneuerbaren Energien unerlässlich“ (auch §4). Währenddessen hat die gleiche Landesregierung am gleichen Tag in einem anderen Gesetz beschlossen, das für Windenergieanlagen – im Wortlaut: Vorhaben, die der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Windenergie dienen – ein „Mindestabstand von 1.000 Metern zu Wohngebäuden“ gilt (Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Baugesetzbuches in Nordrhein-Westfalen, Drucksache 17/13426, §2). Eine maximale Verzögerungstaktik für eine echte Energiewende? Es gibt die ersten Pfiffe vom Publikum. Kritik am „Windkraftverhinderungsgesetz“ wird lauter.
Es ist eine ähnliche schwarzgelbe Mannschaft wie die schwarzgelbe Anfangsformation, die seit Bestehen des EEG gegen die Energiewende losgeschickt wurde. Sie verzichtet auf Experimente, hat etwa die einstige Stabsstelle Umweltkriminalität abgeschafft.
Die Nachspielzeit ist nun auch vorbei! Überall Wahlkampf – doch immerhin es geht nicht torlos in die September-Wahlkampfrunde. Und von der von konservativer Seite oft behaupteten „Grünlastigkeit“ von Medien ist kaum etwas zu sehen. Trotz Korruptionsskandalen der CDU und Verdächtigungen gegenüber Bundesfinanzminister Olaf Scholz im Zusammenhang mit den Cum-Ex- und Wirecard-Skandalen, werden den Plagiatsvorwürfen gegen Baerbock medial viel Raum gegeben. War die Gesetzesnovelle von vergangener Woche vielleicht ein wahltaktisches Manöver? Umwerbung der Player der fossilen Industrie? Ist es wahr, wie Ulrike Herrmann schreibt, dass Konservative permanent befriedet werden müssten und: „CDU-Chef Armin Laschet könnte genauso gut in der FDP sein“? Das Team Laschet hofft auf eine Chance zum Einzug ins Finale. Vielleicht war der neue Passus im Gesetz doch ein taktisches Foul? Die Schiedsrichter werden Zeit brauchen, um das zu prüfen. Aber gibt es überhaupt einen VAR in diesem Spiel?
Die Verlängerung: Interessant ist die Frage, wie die Mannschaft der Klimaschutzbefürworter reagieren wird. Die beiden Teams der Klimakrisen-League werden wieder aufeinander treffen. Könnte das Gesetz in NRW Klimaschutzklagen erst mal verhindern? Betroffene reichen bereits Klagen gegen das Landesgesetz ein, wie der WDR berichtet. Das Publikum wartet auf überraschende Umschaltmomente. Ein neues BVerfG-Urteil könnte Teile des NRW-Gesetzes für ungültig erklären. Könnten sie kontern? Wir warten gespannt ab. Der Ball ist rund. Damit das Denken die Richtung ändert.