04.06.2021
100 Prozent in neun Jahren sind möglich - neue Studie der Energie Watch Group
Eine Studien-Analyse von Jörg Sutter
„100% Erneuerbare Energien für Deutschland bis 2030“:
Diese Studie, von der die Energy Watch Group um ihren Präsidenten Hans-Josef Fell hat in der vergangenen Woche eine neue Studie veröffentlicht, verdient Beachtung. Denn ihr Titel trifft genau den Zielslogan vieler Organisationen der erneuerbaren Energien.
Aber ist das womöglich schon wieder eine Studie, die kurz Aufmerksamkeit verspricht und dann wieder verschwindet? Ich glaube nicht. Dieses Papier wird für viele eine argumentative Grundlage für den kommenden Wahlkampf vor der Bundestagswahl werden.
Die deutsche Politik müht sich derzeit, kurz vor dem Ende der Legislaturperiode die Energiegesetze noch schnell zu reparieren und Konflikte wie NorthStream II und Kohleausstieg möglichst auf die Seite zu schieben. Der aktuelle Höhepunkt: Die Unionsfraktion im Bundestag blockiert den bereits von Bundeskabinett und den Ministerien vereinbarten Kompromiss zur 50/50 Aufteilung der CO2-Kosten bei Mietsgebäuden. Und vermutlich wird jetzt noch schnell das Klimaschutzgesetz um einige Zahlen nach 2030 ergänzt, um damit die Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes zu erfüllen. Doch was davon wird die Praxis der Energiewende voranbringen? Nichts.
Da kommt die Studie der EWG zum rechten Zeitpunkt.
Sie will die Frage beantworten: Sind 100 Prozent EE möglich? Und sie skizziert einen Weg, wie eine beschleunigte Energiewende umgesetzt werden kann. Bleibt nur noch die Frage an die Politik: Welche Parteien übernehmen dieses Ziel? Und an die Wähler*innen: Wieviel Prozent wollen und können sich dem Ziel anschließen? Nur dann kann tatsächlich aus dem Wollen ein Machen werden.
„Klimaschutz – Versorgungssicherheit – Wirtschaftlichkeit“:
Der Untertitel der Studie deutet schon darauf hin, dass hier nicht eine Fantasie niedergeschrieben wurde, sondern die Machbarkeit im Mittelpunkt steht: Das klassische Zieldreieck der Energieversorgung, das immer wieder herangezogen wird, soll also auch weiter Bestand haben. Aber: „Wir können uns angesichts des Klimanotstandes nicht aussuchen, ob wir handeln wollen oder nicht“, sagt Thure Traber, Leitautor der Studie.
Was beschreibt die Studie?
In der Studie wird ein Energieversorgungssystem berechnet, das vollständig auf erneuerbare Energien – und das in allen Sektoren – bis 2030 umgestellt wird. Wichtig dabei: In einer stündlichen Auflösung der Simulation werden dabei alle möglichenDunkelflauten im Winter vollständig abgedeckt. Ein immer wieder aufflammendes Argument der Energiewende-Skeptiker wird damit jedenfalls entkräftet.
Drei verschiedene Szenarien werden untersucht, die sich primär im Ausbau der Windkraft in Süddeutschland unterscheiden: von keinem Ausbau (0%) über 50 Prozent bis zum vollen Potential von 47 GW Windkraftleistung. Aktuell hat sich die neue Baden-Württembergische Umweltministerin Thekla Walker für den starken Ausbau der Windkraft im Land ausgesprochen. Das Land will laut Koalitionsvertrag 1.000 neue Anlagen errichtet sehen und zum (wiederholten) Mal versuchen, die landeseigenen Waldflächen für die Hälfte, also 500 Anlagen verfügbar zu machen. Zumindest diesem Südland ist klar, dass es mit Photovoltaik alleine nicht gehen wird.
Mit den unterschiedlichen Wind-Ausbaupfaden verbunden ist auch ein unterschiedlicher Netzausbau: wenn im Süden wenig oder kein Wind ausgebaut wird, muss der Strom aus dem Norden kommen. Während im Szenario 3 (mit 100% Windausbau) nur wenig (7,6 GW) zusätzlicher Leitungsbedarf benötigt wird, werden bei weniger Windausbau bis über 10 GW neue Leitungen benötigt.
PV-Ausbau 85 GW pro Jahr
Die Studie sieht nicht nur eine Umstellung auf erneuerbare Energien, sondern auch eine Umstellung der brennstoffbetriebenen Energieanlagen auf Strom vor. Der Strombedarf ist daher extrem hoch und der Zubaubedarf der PV damit ebenfalls. Während viele Verbände (unter anderen Randbedingungen) derzeit einen Ausbau von 10-15 GW pro Jahr fordern, sieht die Studie in Szenario 3 einen PV-Ausbau von 85 GW pro Jahr vor. Und das nur, wenn der Wind ausgebaut wird, ansonsten würde der nötige PV-Ausbau auf 120 GW pro Jahr ansteigen. Zum Vergleich: Im letzten Jahr gab es gerade einmal knapp 5 GW neue Solarmodule auf deutschen Dächern und Freiflächen.
Ausbau von Speichern
Auch bei notwendigen Speicherkapazitäten hängt die Größenordnung davon ab, wieweit der Süden mit der Windkraft kommt. 20 TWh Speicherkapazität (Szenario 3) wurden berechnet, 80 Prozent mehr wären es ohne Windausbau. In der Studie werden auch die Speichertechnologien unterschieden: Während die kurzen, täglichen Anpassungen von Erzeugung und Verbrauch durch Batterien und Pump- sowie Wärmespeicher erfolgen, wird für die saisonale Speicherung Wasserstoff vorgesehen.
Weitere Bemühungen
Gleichzeitig mit dem EE-Ausbau muss auch die Energieeffizienz gesteigert werden, sonst wird eine Vollversorgung nahezu unmöglich. Heißt konkret: Sanierungsquote der Gebäude erhöhen und viele Potentiale zur Einsparung in Gebäude- und Verkehrssektor, aber auch z.B. beim Netzbetrieb konsequent heben.
Betrachtung des Energiebedarfs
Von welchem Endenergiebedarf geht die Studie für 2030 aus? Sie setzt einen gegenüber 2018 deutlich reduzierten Verbrauch von 2.069 TWh (gegenüber 2.500 TWh 2018) an und begründet die Absenkung vor allem mit der Elektrifizierung im Verkehrs- und Wärmebereich. Das ist nachvollziehbar, denn für die Elektromobilität wird durch die bessere Effizienz einfach deutlich weniger Energie als für die heutigen Verbrennerfahrzeuge benötigt.
Die Simulation des Energiesystems erfolgt mit den Wetter-Realdaten aus dem Jahr 2017, damit wurde ein konkretes Jahr betrachtet, das während drei Wochen im Januar auch eine durchaus kritische Flautensituation in Norddeutschland geboten hatte.
Ergebnis: Es könnte gehen
Die Studie zeigt einerseits, dass ein Ausbau auf 100 Prozent erneuerbare durchaus gangbar wäre und im Vergleich zu heute sogar geringere Energiekosten: ein tolles Ergebnis! So gehen in Szenario 3 die jährlichen Energiekosten von 189 Mrd. Euro auf 155 Mrd. Euro pro Jahr zurück. Dabei werden die Kosten pro MWh in Szenario 3 für das Jahr 2030 mit 76 Euro angesetzt, also genauso hoch wie im Jahr 2018, wenn man den Durchschnitt aller Energiesektoren betrachtet.
Die Studie zeigt aber auch deutlich, wie teuer das ganze werden könnte, wenn der Süden der Republik auf die Windkraft verzichtet. Neben mehr Speichern müssen dann auch zusätzliche Leitungskapazitäten aufgebaut werden, die Milliarden Euros verschlingen. Gerade das muss politisch ernst genommen werden.
Und was fehlt?
Nun, über die vollständige Umstellung auf Strom kann und wird diskutiert werden, eine politische Umsetzbarkeit wird hier (gegen die große Lobby aus der Brennstoffbranche) sicherlich nicht leicht. Doch auch für den Ausbau sind Schwierigkeiten vorprogrammiert: Wer soll 85 GW pro Jahr aufbauen? Ein solcher Ausbau bräuchte deutsche Solarfabriken für die Materialversorgung und eine Aus- und Weiterbildungsinitiative, um die vielen notwendigen Arbeitskräfte bereitstellen zu können. Doch die Studie geht nicht unrealistisch davon aus, dass das sofort starten kann, sondern setzt eine S-Kurve an, die erst ab den 2025er Jahren deutlich ansteigt.
Nicht betrachtet in der Studie wurden auch die nicht-stromgebundenen erneuerbaren, namentlich die häusliche Holzheizung und die Solarthermie. Würde man diese Techniken mitbetrachten, könnten EE-Ausbau bzw. Effizienzsteigerung etwas geringer ausfallen. Doch es war nicht Ignoranz: Die Ersteller der Studie schätzen den Stromanteil in 2030 auf rund 80 bis 90 Prozent ein, deshalb wurde auf die komplexe Einbeziehung von Biomasse, Solarthermie etc. verzichtet.
Und auch mögliche Energieausgleiche über Im- und Export im europäischen Stromsystem, wie jetzt auch seit kurzem mit dem großen Seekabel Nordlink nach Norwegen möglich, sind nicht berücksichtigt. Nutzt man diese Möglichkeiten zusätzlich, kann sicherlich vor allem der Ausbau der Speicher geringer ausfallen. Weitere Fragen zur Studie hat Hans-Josef Fell beantwortet.
Und sonst?
Fehlen noch die konkreten Schritte, die gegangen werden müssen, um solch eine Umstellung in die Wege zu leiten. Das Szenario 3 ist nur mit mutigen und großen Systemänderungen zu erreichen, nicht mit Kleinreparaturen an einigen Energiegesetzen. Wie hier die Weichen gestellt werden könnten, das wäre interessant und könnte noch Inhalt von weiteren Untersuchungen werden.
Mein Fazit
Die Studie zeigt, dass ein skizziertes zukünftiges Energiesystem mit 100 Prozent erneuerbaren Energien möglich ist und auch Dunkelflauten beherrschen kann. Aufgrund der notwendigen Vereinfachungen der EWG-Untersuchung ist in einigen Bereichen ein kleiner „Puffer“ vorhanden, die eine Zielerreichung ermöglicht, auch wenn die Ausbauziele nicht vollständig erreicht werden.
Dass die vollständige Umstellung zu einem Energiesystem führt, das sogar kostengünstiger ist als heute, überrascht. Doch es ist ein wichtiges politisches Signal in die derzeitige Diskussion der Energiepreise mit Benzinpreis-Bremse und CO2-Preis-Vermieterbeteiligung.