06.11.2020
Wege zur Klimaneutralität 2050
Eine Studien-Analyse von Götz Warnke
Dass Deutschland den Weg zur Klimaneutralität trotz der Corona-Krise zügig weiter gehen muss, ist, von den rechten Rändern einmal abgesehen, in der Politik und den überwiegenden Teilen der Bevölkerung gänzlich unbestritten. Viele sehen in der derzeitigen Pandemie sogar die Chance, dass der Peak der energiebedingten globalen CO2-Emissionen 2019 mit gut 33 Gigatonnen nicht mehr überschritten wird, sondern sich die Emissionssituation nun zum Besseren wendet. So auch die Denkfabriken Agora Energiewende und Agora Verkehrswende sowie die Stiftung Klimaneutralität. Diese haben daher das wirtschaftspolitische Forschungs- und Beratungsunternehmen Prognos AG, das Öko-Institut und das Wuppertal Institut beauftragt, einen Pfad für ein klimaneutrales Deutschland zu entwickeln, insbesondere unter Berücksichtigung der Pariser Klimaziele (Erhitzung deutlich unter 2°C) und der Tatsache, dass wir bereits heute eine Steigerung der globalen Durchschnittstemperatur um 1,1°C im Vergleich zur vorindustriellen Zeit haben. Das Ergebnis der entsprechenden Studien ist als Zusammenfassung publiziert.
Der Weg zur Klimaneutralität soll dabei in "drei Schritten" gegangen werden, wobei bei den zur Auswahl stehenden Maßnahmen die Hauptkriterien Wirtschaftlichkeit und Wahrung der Investitionszyklen waren.
Der erste Schritt bezieht sich auf die Zeit bis 2030. Hier sollen "die bekannten und bewährten kostengünstigen Strategien" verstärkt werden, so dass die CO2-Äquivalente um 65% gegenüber 1990 sinken. Mittel dazu sind ein schneller Kohleausstieg (bis 2030!) und ein Erneuerbare-Energien-Ausbau, hohe Klimaneutralität bei den anstehenden Reinvestitionen der Industrie, und eine entsprechende Erhöhung des EU-Klimaziels 2030. Als Ziel-Zahlen werden genannt: "... ein Erneuerbaren-Anteil am Strom von etwa 70 Prozent, 14 Mio. Elektroautos, 6 Mio. Wärmepumpen, eine Erhöhung der Sanierungsrate um mindestens 50 Prozent sowie die Nutzung von gut 60 TWh sauberen Wasserstoffs."
Der zweite Schritt ab 2030 beinhaltet die Reduktion der Klimagas-Emissionen um 95 % gegenüber 1990 durch die Dekarbonisierung der Bereiche Industrie, Energiewirtschaft, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft, Abfall mittels Verzicht auf fossile Energieträger, durch verstärkte Elektrifizierung, grünen Wasserstoff und grüne Fernwärme, Reduktion von Düngemitteln und Tierbeständen.
Der dritte Schritt betrifft die "gar nicht zu vermeidenden Restemissionen", die durch CCS (Carbon Capture and Storage) oder CCU (Carbon Capture and Utilization) aufgefangen werden sollen. Diese Restemissionen stammen aus der (Zement-)Industrie und der landwirtschaftlichen Tierhaltung. "Hintergrund ist hier, dass die Studie keine drastischen Änderungen der Ernährungsgewohnheiten voraussetzt ..." (S. 8) Dabei handelt es sich immerhin um ca. 62 Mio. Tonnen (t) CO2-eq. Diese sollen aus Industrie- und Biomasse-Anlagen sowie aus der Luft abgeschieden werden. "Die CO2-Ablagerung könnte dann in leeren Gasfeldern oder tiefen geologischen Formationen unter der Nordsee stattfinden."
Wichtig für alle Schritte ist der politische Fahrplan, wobei die Transformationsziele insbesondere in das Regierungsprogramm nach 2021 einfließen müssten. Der Weg zur Klimaneutralität 2050 ist -von 1990 ausgehend - nach Meinung der Studienautoren schon heute "zu einem Drittel beschritten":
- In der Energiewirtschaft (161 Mio. t Emissions-Reduktionen an Treibhausgasen (THG)) durch das EEG und den Rückgang der auf Braunkohle basierten Strom- und Wärme-Produktion in Ostdeutschland,
- im Gebäudebereich (- 93 Mio. t THG) durch Brennwerttechnik, CO2-ärmere Brennstoffe, mehr Erneuerbare Energien etc.
- in der Industrie (- 89 Mio. t THG) vorwiegend durch Effizienzmaßnahmen
- im Abfallbereich (- 29 Mio. t THG) durch eine Reduktion der deponierten organischen Abfälle wegen der vorgeschriebenen Müllverbrennung
- in der Landwirtschaft (- 20 Mio. t THG) durch den Rückgang der Milchkuh- und Rinderbestände
- im Verkehrssektor (- 2 Mio. t THG) de facto gar nicht, da z.B. die PKW-Personenkilometer in diesem Zeitraum um 31% zugenommen haben; die rechnerische Entlastung ergibt sich durch den steigenden Anteil an Biokraftstoffen.
Wichtige Pflöcke seien schon mit dem vor vier Jahren von der Bundesregierung verabschiedeten Klimaschutzplan 2050 eingeschlagen, der z.B. eine THG-Reduktion bis 2030 von - verbesserungsbedürftigen - 55 % vorsieht.
Die Transformation bis 2050 ruhe energietechnisch auf drei Säulen:
1. Energieeffizienz und Senkung des Primärenergiebedarfs um 50 %. Der Anteil der Erneuerbaren Energien an der verbleibenden Hälfte solle 81% betragen; dazu kämen u.a. Importe von synthetisch erzeugten Energieträgern.
2. Strom aus Erneuerbaren Energien und Elektrifizierung, wobei die Studie einen Stromverbrauch von etwa 960 TWh im Jahr 2050 annimmt - andere Studien rechnen da mit deutlich mehr.
3. Wasserstoff als Energieträger und Rohstoff, ergänzt um PtL-Kraftstoffe sowie den Import von strombasierten Brennstoffen und "grünem" Naphtha.
Fazit
Bei der Dekarbonisierung ist es wie bei einem Langstreckenlauf: die ersten 100 Meter sind bekanntlich die leichtesten. Insofern klingt die Aussage der Studie, dass man den Weg zur Klimaneutralität heute (d.h. nach 30 Jahren!) bereits zu einem Drittel beschritten habe, eher wie eine Drohung denn wie eine Verheißung. Dies gilt insbesondere, wenn man weiß, dass 2050 für eine Klimarettung deutlich zu spät ist und eher 2035 für den notwendigen Treibhausgas-Stopp das äußerste darstellt. Dazu kommt, dass nach dieser Studie auch 2050 Deutschlands Wirtschaft noch nicht CO2-frei, sondern allenfalls klimaneutral sein soll. Basis dieser "Klimaneutralität" ist das Verpressen des CO2's (CCS) in alte Gasfördergebiete, d.h. Bohrungen, die nicht einmal die Fossil-Förderindustrie richtig dicht bekommt. Die Studienautoren müssen die Option dieser zweifelhaften Nicht-Lösung ziehen, da sie in ihrem Papier bestimmte Bereiche zur Reduktion von Klimagasen einfach ausgeklammert haben:
"Die Studie setzt explizit nicht auf Verzicht als notwendige Voraussetzung für Klimaneutralität: die Pro-Kopf-Wohnfläche steigt weiter und die Mobilität bleibt vollumfänglich erhalten. Bei der Ernährung wurden aktuelle Trends fortgeschrieben, wie ein moderat sinkender Milchkonsum, eine Verschiebung des Fleischkonsums hin zu mehr Geflügel sowie ein leichter Anstieg bei Biolebensmitteln. Der Industriestandort Deutschland erhält sein hohes Produktionsniveau."
Wer wirklich das Klimachaos vermeiden und nicht nur wohlfeile Studien zur theoretischen Vermeidung publizieren will, kommt um Einschnitte "beim Eingemachten" nicht umhin. Und das bedeutet Lösungsphantasie statt Wachstumsphantasien: TinyHouses statt steigende Pro-Kopf-Wohnfläche, wandernde Landeskundige statt fliegende Globetrottel, klimafreundliche Ernährung statt sinnloser Verfettung, kreislaufbasierte Biolandwirtschaft statt Klimagase emittierende Turbolandwirtschaft.
Und einen Industriestandort Deutschland, der ein hohes Qualitätsniveau statt eines hohen Produktionsniveaus hält ("Ich hab' mir 'ne neue Matratze gekauft ..." - Erbarmen!). Zudem fehlt in dieser Studie wie in vielen anderen Studien die Diskussion der in unserer Industrie ver- und erarbeiteten Materialien und Produkte. Was bleibt, ist ein weiteres, relativ unambitioniertes Studien-Konzept, das dem deutschen Beitrag zur Befeuerung der Klimakrise nicht gerecht wird.