09.10.2020
Ökozid als Straftatbestand der schweren Umweltzerstörung?
Ein Bericht von Tatiana Abarzúa
Seit Jahren, teilweise seit Jahrzehnten, schlagen Anwälte und Umweltbewegte vor, den Straftatbestand des Ökozids als Verbrechen gegen den Frieden in das Römische Statut einzusetzen. Das Rom-Statut ist die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs IStGH mit Sitz in Den Haag, Niederlande. Seit Montag, mit Beginn einer Aktionswoche der Gruppe Extinction Rebellion erhält das Thema Ökozid sehr viel Resonanz in der Öffentlichkeit.
Protestaktionen in der Hauptstadt
Extinction Rebellion - abgekürzt: "XR" - bedeutet übersetzt "Rebellion gegen das Aussterben" und ist ein dezentrales Netzwerk von Umweltschutzaktivisten. Sie bezeichnen sich selbst als "Rebell:innen" und verfolgen das Ziel, durch angemeldete Demonstrationen und nicht angemeldete Aktionen zivilen Ungehorsams auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Nach Aussage von Manon Gerhardt, eine der politischen Sprecherinnen der Gruppe, sei der Appell, "die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen" zu beenden "auch an Konzerne und Lobbygruppen gerichtet". Für den Zeitraum 5. bis 10. Oktober hat die Umweltschutzbewegung mehrere Proteste in Berlin angekündigt. Den Auftakt bildeten eine Demo ("der Trauerzug der Toten Bäume") und eine Blockade vor dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft durch die Gruppe "Animal Rebellion" sowie eine Blockade vor dem Bundesverkehrsministerium, bei der sich mehrere Menschen an zwei Eingangstore sowie untereinander mit Fahrradschlössern angekettet hatten. Am Dienstag besetzten etwa 30 Kohlekraftgegner Büroräume des Branchenverbands der deutschen Braunkohlenwirtschaft und forderten "eine Offenlegung der Berechnungsgrundlage für die Abfindungen in Höhe von insgesamt 4,35 Mrd. für RWE und LEAG". Zeitgleich demonstrierten rund 300 Menschen vor dem Gebäudeeingang. Rund 200 Aktivisten besetzten eine Straße vor dem Bundeswirtschaftsministerium. Pressesprecher von XR kritisierten die Räumung der Demonstranten als "unverhältnismäßig grob", da einige Polizisten Schmerzgriffe einsetzten. Am Mittwoch fanden Demonstrationszüge statt, mit dem Motto "the sea are rising - so are we", die an den Parteizentralen von CDU und SPD begannen und bis zum Brandenburger Tor führten, sowie eine Fahrraddemo der "Rebel Riders". Am Abend hatten mehrere Aktivisten Brücken und Straßen im Regierungsviertel blockiert, beispielsweise vor der Bundespressekonferenz. XR zufolge sei das Ziel der Proteste die Forderung eines Ökozidgesetzes, mit dem Klima- und Umweltzerstörung strafbar gemacht werden solle.
Womit befasst sich das internationale Strafgericht?
Der IStGH ist ein ständiges internationales Strafgericht und hat eine Völkerrechtspersönlichkeit. Es ist zu unterscheiden vom Internationalen Gerichtshof (IGH), dem Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, welches für die Entscheidung zwischenstaatlicher Streitigkeiten zuständig ist. Das Römische Statut wurde am 17. Juli 1998 auf einer diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen in Rom verabschiedet. Am 1. Juli 2002 nahm der IStGH offiziell seine Arbeit auf. Die Jurisdiktion erstreckt sich über die 123 Vertragsstaaten, die das Rom-Statut ratifiziert haben. Jeder Vertragsstaat hat einen stimmberechtigten Vertreter. Gemäß Statut ergänzt der Strafgerichtshof die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit und hat Gerichtsbarkeit über „die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“. Damit sind gemeint: das Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.
Ökozid bestrafen
Polly Higgins (1968-2019) hatte die Vision, dass schwere Umweltzerstörungen juristisch bestraft werden. Die schottische Rechtsanwältin reichte 2010 bei der UN-Völkerrechtskommission den Vorschlag ein, Ökozid als internationales, fünftes Völkerrechtsverbrechen anzuerkennen. Sie definierte Ökozid als "weitgehenden Verlust, eine Beschädigung oder eine Zerstörung von Ökosystemen bestimmter Gebiete, so dass der friedliche Genuss der Bewohner stark beeinträchtigt wurde oder wird". Higgins und Jojo Mehta starteten 2017 die Kampagne "Stop Ecocide", um die Anerkennung von Ökozid als Völkerrechtsverbrechen am IStGH zu unterstützen.
Auf Einladung von XR Deutschland sprach die Juristin Shirleen Chin am Mittwoch auf einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor. Sie wurde als Vertreterin der Stiftung "Stop Ecocide Foundation" eingeladen, dort ist sie für diplomatische und strategische Fragen zuständig. Diese gemeinnützige Stiftung nach niederländischem Recht (Algemeen nut beogende instelling, ANBI startete die Kampagne "Stop Ecocide". Chin zufolge benötige die Welt ein Gesetz, das Ökozid als Verbrechen definiert. Ohne Gesetz würde die Umweltzerstörung nicht als Verbrechen gelten und könne nicht als solches bestraft werden. Mittels eines Gesetzes könnten Umweltzerstörungen einerseits verhindert werden. Andererseits, wenn solche Zerstörungen passieren, könnten die Geschäftsführer der Unternehmen, die die Umwelt zerstören, verantwortlich gemacht werden. Wie die juristische Fachfrau recherchiert hat, wurde der Tatbestand Ökozid bereits in einem Gesetzesentwurf von 1991 der Völkerrechtskommission (International Law Commission) der Vereinten Nationen genannt - im Zusammenhang mit der Einrichtung eines ständigen Gerichts für internationale Verbrechen - und dort als "vorsätzliche und schwere Umweltschädigung" bezeichnet ("wilful and severe damage to the environment"). Aufgrund des Vetos einzelner Staaten wurde der Passus schließlich aus dem Richtlinienentwurf entfernt. Auf Nachfrage erklärte Chin, dass Ökozid als Straftatbestand im Sinne des Gewohnheitsrechts der Vertragsstaaten eingeführt werden könne.
Im Anschluss an Chins Rede gab es Musik. Nach einer Art Flashmob, einer spontanen Tanzeinlage von mehreren Demonstranten, spielte Manon Gerhardt, Orchestermitglied der Deutschen Oper, Bratsche. Später hielt der fraktionslose Bundestagsabgeordnete Marco Bülow eine kurze Rede. Mit Blick auf die Klimafrage befürwortete er die Idee von XR, eine Bürgerinnenversammlung einzuführen. Die Ergebnisse der Abstimmungen müssten dabei "in Gesetzesinitiativen fließen", so Bülow.
Bei Redaktionsschluss war bekannt, dass XR am Donnerstag eine Kundgebung ab 18 Uhr vor der brasilianischen Botschaft in Berlin angemeldet hatte, um auf die Abholzung des Amazonas und das Mercosur-Abkommen mit der EU aufmerksam zu machen. Die Protestwoche soll nach Angaben der Klimaschutzaktivisten am Samstag enden. Erst vor einer Woche fand in Berlin der von Fridays-for-Future organisierte Klimastreik statt (die DGS News berichteten).