01.05.2020
Blaupause für ein 100% Erneuerbares Welt-Energiesystem
Die Energiewende ist kein rein deutsches Thema. Das liegt nicht nur daran, dass derzeit diese Wende – um es mit einem Seglerbegriff zu sagen – verhungert, d.h. die Wende mangels Geschwindigkeit und Entschlossenheit nicht geschafft wird. Nein, es stellt sich die vielmehr Frage, was selbst eine erfolgreiche deutsche Energiewende nützen soll, wenn in vielen anderen Ländern des Erdballs ein Umstieg auf 100% Erneuerbare Energien aus technischen oder ökonomischen Gründen gar nicht möglich wäre. Mehr noch: Grundsätzliche Fragen des industriellen Energiesystems sind stets international verhandelt worden – spätestens seit dem Werk „The Coal Ressources of the World“, welches zum XXI. Internationalen Geologenkongress 1913 in Toronto als Auftakt der Weltkohlekonferenzen publiziert wurde, oder dem Start der „Weltkraftkonferenzen“ 1924 (heute: World Energy Council/Weltenergierat). Insofern ist es folgerichtig, wenn man die Möglichkeit eines vollständigen Umstiegs auf Erneuerbare Energien für die jeweils verschiedenen Länder und Regionen durch dekliniert.
Dieser umfangreichen Aufgabe haben sich im vergangenen Jahr ein Team der finnischen Technischen Universität Lappeenranta (LUT) unter Prof. Dr. Christian Breyer und der deutschen Energy Watch Group (EWG) mit finanzieller Unterstützung verschiedener Stiftungen gestellt. Es mag an dem mit 321 Seiten abschreckenden Umfang gelegen haben, dass diese Studie zwar weitreichend zur Kenntnis genommen, aber doch inhaltlich außerhalb von Fachzirkeln relativ wenig kommentiert worden ist.
Was ist das Besondere an der Studie? Zum einen skizziert sie kein verallgemeinerndes Bild, sondern erarbeitet die Umstiegsszenarien an Hand von neun Großregionen mit ihren jeweils spezifischen geografisch-klimatischen Voraussetzungen. Diese Großregionen sind: Europa, Eurasien (die meisten Staaten der Ex-Sowjetunion), die MENA-Region (arabische Welt inkl. Iran), Afrika südlich der Sahara, die SAARC-Region (indischer Subkontinent), Nordostasien (China, Japan etc.) Südostasien (von Myanmar bis Neuseeland), Nordamerika, und Südamerika. Diese Großregionen werden in 145 Subregionen bzw. Staaten unterteilt, was eine deutlich bessere Ausdifferenzierung ermöglicht. Dazu werden die Daten mit stündlicher Auflösung in 5-Jahres-Intervallen für den Zeitraum von 2015 bis 2050 modelliert.
Eine weitere Besonderheit ist, dass neben die Sektoren Strom, Wärme und Transport noch die Entsalzung/Desalination als eigenständiger Sektor tritt. Dies mag sich aus heutiger europäischer Sichtweise nicht sogleich erschließen, ist aber im künftigen Weltmaßstab eine durchaus relevante Größe: Immerhin werden die höheren Luft-Temperaturen im 2. Drittel dieses Jahrhunderts zu erhöhten Verdunstungsraten führen. Dabei leiden schon heute viele Gebiete in den ariden Zonen unter sinkenden Grundwasserständen und ländlicher Trockenheit. Der benötigte, steigende Wasserbedarf kann dabei mengenmäßig nur aus entsalzenem (Meeres-) Wasser stammen; dies erfordert für Herstellung und Transport einen erheblichen Energieaufwand.
Wie sieht nun das globale Szenario für 2050 aus? Von dem angenommenen jährlichen Welt-Primärenergie-Bedarf von 150.309 TWh werden 90% durch Elektrizität, 6% durch Bio-Treibstoffe/-Brennstoffe und nur 4% durch Wärme abgedeckt. Dass der Primärenergie-Bedarf trotz des angenommenen Bevölkerungswachstums auf 9,7 Mrd. Menschen im Jahr 2050 und eines jährlichen Energiebedarf-Wachstums von 1,8% nur um ca. 25.000 TWh gegenüber 2015 steigt, liegt vor allem an den hohen Energieeffizienz-Gewinnen durch die Elektrifizierung.
Das regenerative Energiesystem in 2050 soll sich prozentual aus folgenden Quellen speisen: zu 69% aus „Solarenergie“, zu 18% aus Windkraft, zu 6% aus Biomasse+Abfall, zu 3% aus Wasserkraft, sowie zu 2% aus Geothermie. Dabei wird sowohl aus den begleitenden Texten (S.4) als auch aus den Schaubildern (S.3) deutlich, dass mit Solarenergie ausschließlich PV gemeint ist. Das zeigt sich auch nochmals deutlich bei den Vorstellungen zur Wärmeversorgung im Jahr 2050 und den dortigen Anteilen der verschiedenen Techniken: Wärmepumpen: 44%, Elektroheizungen: 26%, Biomasse: 12%, erneuerbare Gase ebenfalls 12% und Solarthermie gerade einmal 5%!
Zentrale Bedeutung im neuen Energiesystem kommt der Energiespeicherung zu, die rund 26% des Wärmebedarfs und etwa 23% des Strombedarfs abdecken soll. Daran schließt sich die Herstellung synthetischer Kraftstoffe (PtF) – de facto eine weitere Form der Energiespeicherung – für den Verkehr an; hierunter werden auch Biokraftstoffe, z.B. aus dem Jatropha-Anbau auf degradierten Böden, subsummiert. Die Bedeutung der Nutzung überschüssiger/rückgewonnener Wärme für diese PtF-Prozesse wird betont. Als Benefits des Systemumbaus werden die langfristig stabilen und dennoch moderaten Energiekosten zwischen 50 und 57 €/MWh, die Einhaltung des Pariser Klimaziels von 1,5°C durch die Senkung aller Treibhausgasemissionen noch vor 2050 auf Null und die Schaffung von rund 35 Mio. Arbeitsplätzen genannt. Ein totaler Umstieg auf EE ist also technisch und wirtschaftlich gut möglich.
Relativ weit hinten im Papier (S. 222 ff.) findet sich ein 12seitiges Kapitel „4. Critical features of the Global 100% Renewable Energy System“, wo die Autoren auf aus ihrer Sicht komplexere Aspekte eingehen: synthetische Kraftstoffe, Dezentralisierung, Kochen mit Biomasse etc. Dabei werden auch die Schwächen des Energiesystem-Modells deutlich. So wird unter dem Punkt „Industrial Sector“ die heute fossil betriebene, energieintensive Produktion von Zement, Stahl und auch Chemieprodukten hervorgehoben. Der künftige Hitzebedarf soll mittels Power-to-Fuel, Müllwärme und Wasserstoff gedeckt werden – alles recht begrenzte Energieformen. Hier wie auch an anderer Stelle rächt sich die Vernachlässigung des Themas „Solare Wärme“. Denn damit lassen sich nicht nur Häuser heizen, Biere brauen und Hölzer biegen, selbst in Europa kann man damit Temperaturen von weit über 1.000°C erzeugen, wie verschiedene Beispiele zeigen (→ SONNENENERGIE 1/2020, S. 30f.). Auch das Kühlen/cooling, im Paper nur gerade dreimal erwähnt, kann solarthermisch erfolgen. Und dies alles bei einer Effizienz von >50% der eingestrahlten Sonnenenergie, während PV auf rund 25% und Bioenergie auf 2-5% kommt. Zudem: Wärme als Wärme zu nutzen spart auch noch die Umwandlungsverluste!
Die Studie der finnischen LTU und der deutschen EWG bleibt eine umfassende, detaillierte und auch wegweisende Blaupause für eine Umstellung der weltweiten Energiesystems auf 100 Prozent Erneuerbare Energien. Aber im Wärmesektor hat sie leider einige Ausblendungen.
Götz Warnke