09.04.2020
Degrowth - manchmal ist mehr eher weniger
Immer wieder an Ostern endet die christliche Fastenzeit. Diese sieben Wochen zwischen Spätwinter und Frühjahr sind nicht dazu da, Armut und Mangel zu feiern, sondern für eine Zeitlang der nicht lebensnotwendigen Dinge zu entsagen, die wir ansonsten im Überfluss haben oder nutzen. Traditionell ging es beim Fasten darum, auf Luxuslebensmittel wie Fleisch und Alkohol zu verzichten. Heute wird ein solcher Verzicht auch bei Schokolade, dem Fliegen und Autofahren geübt. Das sollte und soll kein Spaßverderb sein, sondern den Menschen vor Augen führen, dass vieles Gewohnte und mittlerweile alltäglich in Anspruch Genommene nicht lebensnotwendig und unabdingbar ist. So war das Fasten alljährlich ein kollektiver Abschied von der Macht der Gewohnheit und vom Luxus zur jeweils eigenen Bewusstwerdung. Heute findet sich diese Haltung ganz unabhängig von zeitlichen und religiösen Bindungen in Begriffen wie Suffizienz, Frugalismus oder Minimalismus. Allen Begriffen ist das Ziel gemein, durch konsumkritische Selbstbegrenzung ein selbstbestimmteres, selbsterfüllteres, gutes Leben zu führen. Sie sind somit Ausdruck von Individual-Lösungen.
Denn unsere Gesellschaft als Kollektiv kennt kein Fasten, keine Suffizienz. Hier ist das meist marktmoderierte Wachstum das Maß aller Dinge. Mehr, größer, schneller, hipper – so lauten die Parolen der Wachstumsmärkte. Längst kommt es nicht mehr auf den tatsächlichen Bedarf der Menschen an, sondern nur noch darauf, wie sich das nächste, fast zum Verwechseln ähnliche Produkt in den Markt drücken lässt. Hauptsache eine neue Wachstumsrunde – und bitte keine Fragen, ob das neue Produkt wirklich besser ist als das alte. „Angesagt“, „in“, „stylisch“ und ähnliche substanzlose Schlagworte sorgen dafür, dass sich die Frage nach der Qualität und Nutzwertigkeit gar nicht erst stellt – und endlose Kolonnen von Wortblasen blubbernder Werbefuzzies sorgen dafür, dass das auch so bleibt.
Patroniert wird das Ganze von der Politik: von schwarz bis rot, von blau bis grün klingt der vielstimmige Chor vom Wirtschaftswachstum, von seiner Notwendigkeit und Wohltätigkeit. Keine Bundestagspartei macht hier eine Ausnahme. Und will man einmal hören, wie geradezu liebevoll sich eine demokratisch gewählte deutschen Bundeskanzlerin und ein autokratischer „Roter Mandarin“ aus China duettieren können, dann lässt man sie das vielstrophige Lied vom phantastischen Wirtschaftswachstum durch die „Neue Seidenstraße“ anstimmen. Jedes Jahr erneutes Wachstum, mehr und mehr – das ist die Ideologie, der weite Teile von Politik und Wirtschaft folgen.
Doch diese Ideologie ist ein Irrglaube, denn auf dem begrenzten Planeten Erde kann es unmöglich für alle Menschen auf Dauer ewiges Wirtschaftswachstum geben. Die Ressourcen sind begrenzt, und selbst eine Reise zu den Planetenräumen wird das nicht in nennenswertem Umfang ändern. Dazu kommt, dass jede wirtschaftliche Tätigkeit im industriellen Maßstab auch Kollateralschäden produziert: zerstörte Landschaften, gestörtes Mikroklima, Umweltverschmutzungen, Eingriffe in die Biodiversität, Downcycling von Rohstoffen, etc. Bereits 1972 hatte der US-amerikanische Ökonom Dennis Meadows in Kooperation mit anderen Wissenschaftlern seinen Bericht für den „Club of Rome“ unter dem Titel „The Limits to Growth“ bzw. „Die Grenzen des Wachstums“ vorgestellt. Der Bericht, einer der Ausgangspunkte der Umweltbewegung, zeigte auf, dass ein „Weiter-so“ bei den fünf globalen Tendenzen Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Lebensraumzerstörung, Rohstoffausbeutung und Unterernährung nach der Jahrtausendwende (also heute) fatale Auswirkungen haben würde. Wenngleich das Buch damals auf breite politische Ablehnung stieß – natürlich von links bis rechts –, so versuchen heute die Regierungen der Welt auf unterschiedliche Weise, die Klima- und Umwelt-Anforderungen einerseits und die Wirtschaftsbedürfnisse andererseits unter einen Hut zu bringen. Einzige Grundbedingung: am Primat des Wirtschaftswachstums darf nicht gerüttelt werden! Wachstum steht für Aufstieg, Fortschritt, privates Glück, Wohlstand. Eine andere Wirtschaftsweise scheint daher undenkbar.
Dabei werden die Grenzen des Wachstums im Sinne einer Überlastung unseres Planeten immer deutlicher: Der Earth Overshoot Day (Erdüberlastungstag) wird von Jahr zu Jahr früher erreicht – jetzt bereits Ende Juli! Würden alle Länder so imperial wirtschaften wie Deutschland, wäre er allerdings schon Anfang Mai erreicht; ab dann würde man von der Substanz dieses Planeten zehren. Keines der vier Dutzend fortschrittlichen Industrieländer schafft eine ausgeglichene Lebensweise. Das ständige „Mehr“ der Wirtschaft führt zu „Immer weniger“ bei den lebenserhaltenden Systemen unseres Planeten. Und es gibt wissenschaftlich keinen Hinweis, dass ein steigender Wohlstand in Industrieländern im gleichen Maße die Menschen auch glücklicher mache oder das Leben verlängere (Wohlstandskrankheiten).
Unter den alternativen Ökonomen gibt es für die Krise zwei Lösungsweg: Der erste heißt „Grünes Wachstum“ (Green Growth), und beruht im Wesentlichen darauf, nur noch bei grünen, d.h. nachhaltigen Produkten und Industriezweigen ein Wachstum zuzulassen und letztlich das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Zwar ist es richtig, dass wir weltweit ein starkes grünes Wachstum benötigen, um das vorherrschende fossile Energie- und Ressourcen-System auszulöschen. Doch auf Dauer wird auch ein grünes Wachstum an die Grenzen unseres Planeten stoßen, zumal, wie bereits gesagt, sich Dinge wie das Downcycling von Rohstoffen nicht 100%ig vermeiden lassen.
Der andere Lösungsweg nennt sich Postwachstumsökonomie bzw. Degrowth. Er fordert eine grundsätzliche Abkehr von Wachstumsansprüchen, postuliert statt globaler Weltwirtschaft lokale bzw. regionale Ökonomien, Umverteilung der Erwerbsarbeit, mehr Selbst- statt Fremdversorgung, mehr Handwerk als Industrieproduktion, mehr reparieren als neu kaufen, einen Wohlstandsbegriff ohne Wachstumsbezug. Degrowth ist damit eine gesellschaftspolitische Form der Suffizienz. Und sie ist der Entwurf eines Wirtschaftssystems, das auch dauerhaft innerhalb der planetarischen Grenzen funktionieren könnte, solange sich das Bevölkerungswachstum in Grenzen hält. Dabei ist es durchaus eine Stärke, dass die Bewegung aus sehr unterschiedlichen Ansätzen besteht und von verschiedenen Persönlichkeiten getragen wird: Der US-amerikanische Autor Richard Heinberg, der in seinem Buch „Jenseits des Scheitelpunkts“ u.a. für mehr Arbeit in Landwirtschaft und Gartenbau plädiert, der Brite Rob Hopkins als Begründer der Transition-Towns-Bewegung, die die Umgestaltung der Orte im Sinne eines nachhaltigen Degrowth schon jetzt anpackt, der britische Prof. Tim Jackson u.a. mit seinem Buch „Wohlstand ohne Wachstum – Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt“ sowie der deutsche Prof. Nico Paech mit seinem Werk „Befreiung vom Überfluss“ uvm. Viele der Protagonisten haben Wurzeln in der Energiewendebewegung und fühlen sich ihr auch weiter verbunden.
Ob die in das Wirtschaftswachstum hart einschneidende Corona-Krise einen positiven Effekt für eine Postwachstumsökonomie hat, bleibt fürs Erste ungeklärt; sie könnte auch zu exzessiven Nachholbedürfnissen bei den Überlebenden führen. Klar ist allerdings, dass auch eine Degrowth-Ökonomie um eine Energiewende nicht herumkommt, da nur durch letztere eine schnelle Entkoppelung von Energieerzeugung und Klimaschäden möglich ist. Wer wie der Nur-Ökonom Nico Paech die Energiewende für gescheitert und die CO2-Steuer für sinnlos erklärt, Windkraftgegnern fleißig Argumente liefert und diese aktiv unterstützt, der mag zwar der öffentlichen Beachtung seiner Person und seinen Büchern einen Dienst erweisen, aber nicht einer nachhaltigen Ökonomie. Der vertritt eher ein altbacken-romantisches Naturverständnis im Gewande des Degrowth, blind ignorierend, dass auch in einer Wirtschaft ohne Wachstum der Mensch seine Umwelt umgestalten wird. Auch für die Publizistik einzelner Postwachstumsökonomen gilt also: manchmal ist mehr eher weniger!
Götz Warnke