29.03.2019
Energiewende jetzt
Im vergangenen Monat haben in Berlin drei für die Energiewende wichtige gesellschaftliche Institutionen einen Vergleich von ihren innerhalb der letzten zwei Jahre publizierten Grundsatzstudien unter dem Titel „Expertise bündeln, Politik gestalten – Energiewende jetzt!“ vorgestellt, der bisher wenig beachtet worden ist. Die verglichenen Grundsatzstudien, bei denen es um die Machbarkeit der Energiewende bis 2050 in Deutschland geht, sind: „Klimapfade für Deutschland“ des Bundesverbandes der deutschen Industrie e.V. (BDI) mit 290 Seiten, die „dena-Leitstudie Integrierte Energiewende“ der Deutschen Energie-Agentur im Umfange von 510 Seiten, sowie „Sektorkopplung: Optionen für die nächste Phase der Energiewende“ von „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS), eine Arbeitsgruppe u.a. der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften e.V. mit 100 Seiten Stellungnahme und 166 Seiten Analyse.
Schon wenige einleitende Sätze im Vergleichspapier der drei Studien lassen aufhorchen: „Die Energiewende ist machbar – aber nur, wenn die Politik sofort entschlossen handelt. Ein ‚Weiter so‘ führt dazu, dass Deutschland seine Klimaziele klar verfehlen wird. Die Zeit drängt …“ Diese deutlichen Sätze lassen sich durchaus als Kritik an der Politik der derzeitigen Bundesregierung lesen, die ja der Adressat der Forderungen in den Papieren ist. So unterschiedlich das Design der drei Grundsatzstudien bezüglich Methodik, Inhalte und Ziele ist, so kristallisiert doch der Vergleich sieben zentrale Handlungsfelder als Kernergebnisse der Einzelstudien heraus:
1. Erneuerbare Energien schneller ausbauen
Der Ausbaukorridor von Photovoltaik und Wind sollte um mindestens 50% gegenüber dem EEG 2017 auf 6 GW jährlich angehoben werden. Die maximal installierte Leistung liegt bei 297 GW (BDI) bzw. 600 GW (ESYS). Neue Flächenpotentiale müssen erschlossen werden durch Anpassung der Abstandsregeln und Ausweisung von Vorranggebieten. Der Netzausbau muss intensiver vorangetrieben werden.
Richtig ist hier die Betonung der Erschließung neuer Flächenpotentiale. Sowohl für PV als auch für Solarthermie (ST) müssen dringend mehr Flächen für Großanlagen bereit gestellt werden, bei der ST besonders in Anschlussnähe zu Wärmenetzen in großen Städten, wo auch die etablierte Politik in Kurzsichtigkeit und Populismus oft Nice-to-have-Flächen wie Parks den Vorzug gibt.
2. Versorgung sichern: Verbrauch flexibilisieren, regelbare Kraftwerke bereitstellen
Wärmepumpen (WP), Batteriespeicher, Power-to-X und E-Autos/Battery Electric Vehicles (BEV) sollen Teil der Lösung sein für 80 bis 95prozentige Treibhausgas-Reduktionen sein, wobei die Annahmen der Studien zur Situation 2050 sich bisweilen stark unterscheiden: während bei WP alle Studien von Zahlen zwischen 1 und 17 Millionen Stück ausgehen, liegen BDI und dena bei etwa 10 bis 23 GW installierte Leistung, während ESYS auf 75 bis 119 GW setzt. Ähnlich sieht es bei den elektrischen Power-to-X-Kapazitäten aus: BDI: 0 bis 11 GW, dena: 53 bis 63 GW, ESYS: 77 bis 112 GW. Auch wenn die Unterschiede sich durch verschieden hohe Energieimporte erklären lassen, so überraschen doch die geringen Annahmen des BDI, zumal gerade dieses Verfahren sich gut in industrielle Prozesse eingliedern lässt. Bei der Anzahl der E-Autos liegt das Spektrum zwischen minimal 12 Millionen (dena) und maximal 42 Millionen (ESYS). Zur Versorgungssicherheit seien auch 2050 noch "regelbare Kraftwerke mit einer Leistung zwischen 60 bis 130 GW notwendig“, die vor allem mit fossilem und synthetischem Gas gespeist würden.
3. Markt und Technologien für erneuerbare synthetische Energieträger aufbauen
Für 2050 sehen die Studien "einen Bedarf von rund 200 bis 900 Terawattstunden“ (TWh) an erneuerbaren synthetischen Energieträgern. Dieser Bedarf solle durch die Intensivierung der Entwicklung von Power-to-X-Technologien, europäisch koordinierte Markteinführungsstrategie sowie durch den weltweiten Handel – d.h. durch den massiven Import – mit synthetischen Energieträgern abgedeckt werden. Allein ESYS setzt ausschließlich auf heimisch hergestellte Power-to-X-Derivate. Ob in einer so angespannten globalen Situation wie 2050 sich noch synthetische Energieträger im Umfang von rund 700 TWh importieren lassen, wie es die dena-Studie annimmt, darf durchaus bezweifelt werden.
4. Auf neuen Technologiemix im Verkehr umstellen
Auch 2050 sollen neben dem E-Auto noch PKW mit Bio- und PtX-Kraftstoffen unterwegs sein. Zwar machen in allen Studien in 2050 E-PKW einen großen oder überwiegenden Teil der Autos aus, aber nach dem BDI gibt es immer noch einen bemerkenswerten Anteil an konventionellen und Gas-Fahrzeugen. Bei der technologischen Zukunft des Schwerlastverkehrs ist man sich unsicher („ist der Ausgang des Technologierennens um die besten Lösungen … heute noch offen.“), beim europäischen Langstreckenverkehr setzt man auf einen „strategischen Dialog mit den EU-Mitgliedsstaaten“, beim Flug- und Schiffsverkehr auf internationale Kooperationen zum schnellen Umstieg auf erneuerbare Kraftstoffe. Ein Großteil des Verkehrsabschnitts wirkt wie etwas nach dem Motto gestrickt: „Wenn man nicht mehr weiter weiß, bildet man ‘nen Arbeitskreis.“ Dabei ist gerade bei den steigenden Emissionen im Verkehrssektor ein riesiges Problem, das entschieden mit wirklichen Null-Emissions-Techniken wie z.B. Windschiffen im Seeverkehr angegangen werden müsste.
5. Gebäude stärker und schneller energetisch sanieren
Gegenüber der heutigen, völlig unzureichenden Sanierungsrate von ein Prozent, die selbst 2050 noch allein 8 Millionen Wohngebäude unsaniert bzw. unzureichend saniert hinterlassen wird, setzen die drei Ausgangsstudien auf Sanierungsraten von 1,4 (dena) bis 2,0 Prozent (BDI und dena), wobei ESYS mit seinen beiden Zielkorridoren bei 1,7 und 1,9 liegt. Zur Umsetzung solle der Staat stärker fördernd und fordernd eingreifen, auf nachhaltige energetische Standards achten, vorausschauend die mögliche Implementierung von Wärmenetzen und -Speichern berücksichtigen, sowie Informations- und Anreiz-Systeme ausweiten. So richtig und wichtig eine deutlich höhere Sanierungsrate ist, so bleibt doch zumindest in diesem Studienvergleich die Frage nach den dabei verwendeten Bau- und Dämm-Stoffen sowie deren CO2-Lasten unerwähnt.
6. Industrieemissionen vermeiden – mit Effizienz, Erneuerbaren Energien und neuen Verfahren
Vom deutschen Endenergieverbrauch beanspruche die Industrie 25 %; wovon wiederum 90 % aus fossilen Quellen gedeckt würden. Die Industrie müsse also innerhalb des bei ihr üblichen Innovationszyklus von 30 Jahren ihre Emissionen um mindestens 90 % reduzieren. Dazu gehören auch die Vermeidung der rund 7 % der deutschen Treibhausgas-Emissionen aus technischen Industrieprozessen (Stahlherstellung). Wichtig für die Industrie seien Förderungen bei Forschung und Entwicklung, langfristig planbare Rahmenbedingungen, Schutz vor Benachteiligungen im internationalen Wettbewerb, und eine größere Offenheit gegenüber der Technologie CCS (Carbon Capture and Storage), also der Verpressung von CO2 im Untergrund. So kritisch man CCS wegen möglicher, das Klima gefährdender Leckagen und Wiederausgasungen auch sehen mag, so macht die gesonderte Erwähnung dieses Einzelthemas im Rahmen der o.a. Allgemeinplätze doch deutlich, das die Industrie angesichts des regierungsamtlichen deutschen „Weiter so“ ohne diese Technik kaum noch Chancen auf eine Einhaltung der Klimaziele sieht.
7. Ganzheitliche Steuerung der Energiewende, um Investitionen zu ermöglichen
Alle drei Studien weisen auf deutliche Investitionen/Mehrkosten hin, sollen bis 2050 die Treibhausgasemissionen um 80 % gesenkt werden. Die Kosten könnten sich auf 15 bis 70 Milliarden Euro jährlich im Vergleich zum heutigen „Weiter-so“ belaufen. Zu Bedenken sei, dass diese Kosten durch anspruchsvollere Ziele und/oder einen späteren Beginn des Energiesystem-Umbaus weiter steigen könnten.
Die Schlussfolgerungen (als Zitat mit Hervorhebungen durch die Vergleichsstudie-Autoren):
- Die Bundesregierung sollte Rahmenbedingungen schaffen, die langfristige Planbarkeit gewährleisten, um Investitionsrisiken zu minimieren.
- Als Ausgangspunkt sollte die Bundesregierung das System an Abgaben, Umlagen und Steuern umfassend und möglichst noch in dieser Legislaturperiode überarbeiten. Im Mittelpunkt der Reform sollten CO2-orientierte Preissignale für alle Anwendungssektoren auch außerhalb des ETS stehen.
Fazit
Wenn auch die Ergebnisse der Einzelstudien in Teilen weit auseinander liegen, so verweisen sie doch alle auf den Ernst der Lage. Sie untermauern wissenschaftlich, dass die energiepolitischen Maßnahmen der derzeitigen Bundesregierung völlig unzureichend sind, und verlangen dagegen eine deutliche Beschleunigung der Energiewende. Auch die in der Regierungskoalition unbeliebten Themen wie „CO2-orientierte Preissignale für alle Anwendungssektoren“ werden offensiv in die Diskussion gebracht. Für eine Aussitzen bis zur nächsten Legislaturperiode lässt uns der Klimawandel keine Zeit mehr. Energiewende jetzt!
Götz Warnke