12.10.2018
Mobilitätskonzept oder dickes Fahrzeug?
Nachdem in dieser Woche schon wieder ein neues Ermittlungskapitel (Audi wegen Erschleichung von Zulassungen in Südkorea) aufgeschlagen wurde, darf man wirklich fragen, wohin die Reise der deutschen und europäischen Autoindustrie geht. Es wird immer deutlicher, dass der Absprung in die Zukunft verpasst wurde. Während in Amerika die technologiegetriebenen Unternehmen das autonome Fahren vorantreiben, wächst derzeit in China die Elektromobilität in rasantem Tempo. Und bei uns?
In Deutschland wird noch immer in kleinen Puzzleteilen gedacht, die mit Glück zusammenpassen. Die großen Hersteller entwickeln Fahrzeuge, die Energieversorger streiten sich mit den Kommunen um die Plätze für zukünftige Ladepunkte und die Bundesnetzagentur streitet mit der Mobilfunkindustrie um die Ausschreibung von neuen Funkfrequenzen, die zentrale Grundlage für vernetztes Fahren sein wird.
In China dagegen wird mit staatlicher Unterstützung ein gesamtheitliches neues System entwickelt: Rahmenbedingungen, Fahrzeugentwicklung und Ladeinfrastruktur werden koordiniert vorangetrieben. In 5G-Technik wurden dort seit 2014 bereits 24 Mrd. Dollar investiert, 350.000 Mobilfunkmasten für 5G sind bereits installiert. Kürzlich wurde ein Förderprogramm angekündigt, das landesweit für 5 Millionen Ladepunkte bis 2020 sorgen soll. Bis 2020! Gemäß einer Untersuchung von McKinsey &Co. sind derzeit 67 (!) chinesische Automarken mit Elektrofahrzeugen am Markt. Parallel werden dafür notwendigen große Batteriefabriken errichtet.
Und bei uns? Die deutschen Traditionshersteller haben als Puzzleteil in den vergangenen Wochen begonnen, Ihre Neuentwicklungen im Bereich der Elektromobilität der Öffentlichkeit zu präsentieren, darunter Daimler mit dem EQC und Audi mit dem e-tron. Diese Fahrzeuge sollen im kommenden Jahr ausgeliefert werden. Betrachtet man die Größe und Wuchtigkeit der Autos, stellt sich die Frage, ob das der richtige Weg ist. BMW ist mit dem i3 hier als einziger anders aufgestellt.
Nachdem beide Fahrzeuge (genau wie auch der e-Golf von VW) als elektrifizierter Kompromiss auf den bisherigen Plattformen der Verbrenner aufgebaut wurden, können sie bei den technischen Kennwerten nicht überzeugen oder gar den Marktführer Tesla im Premiumsegment überholen. Aktuell sonnt sich Tesla genüsslich in Zahlen: Neben dem Zulassungsrekord in den USA (inzwischen vor den deutschen Verbrennern) führt Tesla nun auch in der Crash-Test-Statistik der NHTSA (US-Bundesbehörde für Straßen- und Fahrzeugsicherheit). Das Unternehmen steht aktuell in der Statistik aller jemals getesteten Fahrzeuge mit dem Model 3 auf Platz 1, gefolgt von Model S auf Platz 2 und Model X auf Platz 3. Der Eindruck bleibt: die deutsche Autoindustrie hat nicht verstanden, was hier gerade passiert. War nicht die Sicherheit ein Hauptaugenmerk?
Im Segment der kleinen Fahrzeuge gibt es von deutschen Herstellern nahezu nichts im Angebot, hier wittern neue Anbieter wie e.go aus Aachen oder Sono aus München ihre Chance. Doch e.go enttäuscht aktuell seine Vorbesteller: Die ersten Auslieferungen wurden zuerst auf Dezember 2018 und in dieser Woche auf Mitte 2019 verschoben.
Sono befindet sich mit seinem Sion derzeit auf Roadshow in Deutschland und den Niederlanden, um das Fahrzeug bekannt zu machen. Auffällig sind die Solarzellen in Türen, Dach und Motorhaube, die das Fahrzeug aufladen. 200 km Reichweite, 5 Sitze und ein großer Kofferraum sind dabei gesetzt, das Fahrzeug ist technisch vorbereitet für Car- und Ride-Sharing und auch für bidirektionales Laden.
Langfristig ist auch ein Akku-Zugriff des Herstellers angedacht, der dann alle seine Fahrzeuge zur Netzstabilisierung einsetzen könnte. Auf viel Extrazubehör wird verzichtet, um die Kosten niedrig zu halten. Eine Eigenschaft des Sion erinnert an den ersten Ford Modell T, der ab 1914 verkauft wurde: Es gibt ihn nur in schwarz. Doch auch für diese Fahrzeuge gilt: Sie sind nur ein Puzzlestück der zukünftigen Mobilität.
Vor einigen Tagen stellte sich in Stuttgart bei der Fachkonferenz elect! der neue chinesischer Fahrzeughersteller Byton vor: Dessen Vizepräsident, der schon bei Tesla und Apple arbeitete, entwickelt aus diesen Erfahrungen derzeit ein vollständig neues Fahrzeug, das kompromisslos in die Zukunft schaut: Vollelektrisch, designt und mit Mobilitätskonzept, künstlicher Intelligenz und Cloud-Vernetzung ausgestattet, so dass das Auto für den Fahrer jederzeit als Helfer bereitsteht. Ich fahre durch die Stadt und suche ein gutes Restaurant mit freiem Ladepunkt um die Ecke? Das Auto kennt die Antwort und lotst den Fahrer direkt dorthin. Das Auto selbst ist dabei nur Teil des Plattform-Gedankens, der ganz schnell auch neue Services anbieten kann, die einen Mehrwert bieten. Solche Lösungen werden wohl die Zukunft der Mobilität sein. Doch ist unsere Industrie in der Lage das anzubieten?