01.03.2019
E-Autos im Winterblues?
Das Foto eines Staus auf einer winterlichen, mehrspurigen Autobahn und der Spruch: „Wenn das alles E-Autos wären: wer würde die alle abschleppen nach 3 Stunden heizen … und vor allem – WIE???“ – fertig ist das E-Auto-Bashing. E-Autos, so die Botschaft, taugen nichts, denn sie machen im Winter schnell schlapp.
Ist die Reichweite von E-Autos wirklich in besonderer Weise einer Art „Winterblues“ unterworfen, und welche Einflüsse spielen überhaupt eine Rolle für die Reichweite bzw. den Verbrauch von Autos?
Für alle Fahrzeuge gibt es eine Reihe von Faktoren, die je unterschiedlich den Verbrauch pro Wegstrecke und damit die Reichweite pro Tank-/Akku-Ladung bestimmen, als da sind ...
Gewicht: Ein startendes Fahrzeug muss neben dem Gewicht seiner Passagiere und der Zuladung auch sein Eigengewicht beschleunigen. Je höher dieses ist, desto größer ist der Energieaufwand – soweit klar. Doch das Gewicht spielt auch eine Rolle, wenn man höhere Geländepunkte erreichen will; dann wird mehr Energie verbraucht. Gerade bei E-Fahrzeugen mit ihrer Fähigkeit zur Rekuperation ist es interessant, schwerer zu Tal zu fahren als bergauf. Wer also am Gipfel Steine, Schnee oder müde Bergwanderer zulädt, ist klar im Vorteil und kann bergab sogar Energie ernten. Ein Fossil-Fahrzeug kann allenfalls sparsam in kleinem Gang und ohne Gas zu geben ins Tal rollen – Energie verbraucht es dennoch.
Rollwiderstand: Der Rollwiderstand ist von verschiedenen Punkten abhängig – vom Luftdruck der Räder (besser etwas höher), ihrem Profil und ihrer Breite, vom Fahrzeuggewicht, und natürlich vom Untergrund: tiefer Schnee und Sand erhöhen den Widerstand, wie sich jeder Wanderer vorstellen kann. Aber selbst Regenwasser auf der Fahrbahn verbraucht Energie zu seiner Verdrängung/Zerstäubung. Kopfsteinpflaster und insbesondere loser Sand sowie Schlaglöcher verhelfen dem Rollwiderstand zu ungeahnten Höhen. Bei diesem Thema gibt es zwischen E- und F(ossil)-Autos praktisch keine Unterschiede, wenngleich viele E-Autos vom Werk aus mit Leichtlaufrädern ausgestattet werden.
Luftwiderstand: Seit 1932 Manfred von Brauchitsch mit einem privaten, stromlinienverkleideten Sportwagen (Mercedes SSKL) auf der Avus die stärkeren und leichteren Rennwagen besiegte, ist die Verbesserung des Luftwiderstands ein wichtiger Punkt bei Fahrzeugkonstruktionen. Bei den heutigen Konstruktionen kann der normale Nutzer die herstelleroptimierte Stromlinie seines Fahrzeugs allenfalls durch offene Fenster sowie Dach- und Fahrrad-Gepäckträger ruinieren, aber kaum verbessern. Im Bereich Stromlinie hat das E-Auto meist die Nase vorn: ohne störenden Auspuff kann man den Unterbodenbereich glatter, ohne Kühler die Frontpartie flacher gestalten.
Reibungswiderstand: Unvermeidliche mechanische Widerstände wie z.B. Achslager und Getriebe, aber auch vermeidbare Widerstände wie schleifende Bremsen und defekte Lager kosten Energie. Vorteil des E-Autos: es kann auf viele mechanische Teile wie Getriebe, Kurbelwelle usw. verzichten.
Elektrische Verbraucher: Heckscheibenheizung, Licht, Lüftung, Musikanlage, Navi, Sitzheizung – es gibt viele elektrische Verbraucher im Auto, die an den Energiereserven in Akku oder Tank zehren. Ganz gleich ob E- oder F-Auto: wer mit seiner mobilen Musikanlage den ganzen Stadtteil beschallt, verliert an Reichweite – wer seine Heizung auf 26°C hochschraubt, auch.
Außentemperatur: Ja, neben den üblichen Winterreifen und der eingeschalteten Heizung hat Kälte bzw. Frost einen besonderen Einfluss auf die Akkus von E-Autos. Ursache ist der Elektrolyt/Ionenleiter, der mit sinkenden Temperaturen immer zähflüssiger wird und die wandernden Lithiumionen auf ihrem Weg vom Minuspol (Kathode) zum Pluspol (Anode) zunehmend ausbremst. Dadurch sinken beim Akku die Kapazität, Spannung und Ladegeschwindigkeit deutlich. Doch dagegen gibt es immer mehr Möglichkeiten zum Vorheizen vor Fahrtantritt oder zur Batterieerwärmung. Und immerhin haben es zwei Journalistinnen schon vor zwei Jahren geschafft, mit ihrem Tesla im Winter von Stuttgart bis zum Nordkap und zurück zu fahren.
Auf der anderen Seite: F-Autos haben das Winterproblem auch, und zwar sogar ganzjährig! Denn bevor ihre Verbrennungsmotoren „warm“ sind, d.h. eine bestimmte Öl-Temperatur erreicht haben, sind sie arge Sprit-Säufer. Nicht nur, dass die nach dem alten „Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ)“ – eine völlig unrealistische, in der Praxis nie zu erreichende Verbrauchserhebung – ermittelten Werte generell viel zu niedrig sind; auf den ersten fünf Kilometern verbrauchen F-Autos locker das zwei- bis dreifache der Normwerte. Und um bei dem o.a. winterlichen Stau-Beispiel zu bleiben: während bei E-Autos im Stau oft nur eine sparsame Wärmepumpen-Heizung arbeitet, laufen bei F-Autos der großvolumige Motor plus Heizung – da ist der Tank schnell leer! In Rotterdam setzt der Mineralölkonzern Shell nicht umsonst einen elektrischen Tankwagen für liegengebliebene Benziner ein.
Fahrbereich: Stadt, Landstraße, Autobahn – nicht nur kleine und große Autos haben ihre optimale Umgebung, sondern auch E- und F-Autos. Während E-Autos besonders Städte lieben, weil sie dort bei den häufigen Geschwindigkeitswechseln ein Teil der Energie durch Rekuperation wiedergewinnen können, sind Autobahnfahrten nicht ihr Metier, weil dort Luft- und Rollwiderstand langsam die Akkus aussaugen. F-Autos verbrauchen in Städten wegen der häufigen Änderungen der Motordrehzahl (anfahren) besonders viel, und können die Energie nicht zurückgewinnen. Die gleichmäßige Fahrweise auf Landstraßen und Autobahnen spart hingegen Sprit.
Fahrstil: Starkes Beschleunigen, scharfes Bremsen und Vollgasfahrten treiben den Energieverbrauch deutlich hoch – bei E- und bei F-Autos. Wer zwei so hektische Tage pro Woche hat, muss sich nicht wundern, wenn Akku oder Tank schneller leer sind.
Aus dem o.a. Gesagten werden einige Punkte deutlich:
- Die Reichweite von Autos ist von vielen Faktoren und längst nicht nur von den Außentemperaturen Sommers wie Winters abhängig. Einige dieser Faktoren lassen sich vom Fahrer beeinflussen (Gewicht, Reifendruck, Fahrstil), andere nicht (Reibungswiderstand, Temperaturen).
- Bei allen Unterschieden zwischen E- und F-Autos, die Physik gilt für beide. Große, schwere SUVs sind durch Gewicht und schlechte Stromlinie Energievernichter – ganz gleich ob als E- oder als F-Auto.
- Es gibt ein „Winterproblem“, aber dieses gibt es, wenn auch in unterschiedlicher Form, bei E- und F-Autos.
Doch wie sieht nun die Praxis bei E-Autos aus? Der Renault ZOE (R90) in meinem Haushalt mit 41-kWh-Akku, der meist fünf Tage pro Woche auf der gleichen Stadtstrecke gefahren wird, verbraucht im Sommer durchschnittlich 12 bis 12,4 kWh auf 100 km. Die Reichweitenanzeige im Auto signalisiert dann 320 bis 330 km, was sich als realistisch erweist und der Kapazität des 41-kWh-Akkus entspricht. Jetzt im Winter mit teilweise Minusgraden liegt der Verbrauch bei bis zu 17,7 kWh auf 100 km, die Reichweite dann aber nur noch bei 210 bis 215 km. Doch selbst das reicht noch für fünf Arbeitstage ohne Stecker-Stopp, Staus eingeschlossen. Die Schnell-Ladesäulen auf der Strecke kann man sich getrost beim Vorbeifahren ansehen. Winterblues ist was für Weicheier!
Götz Warnke